Düstere Tragödie: Unbekanntes Horvath-Werk uraufgeführt

Wien (dpa) - „Ich muss leben, ob ich will oder nicht.“ Der Geiger namens Klein gehört zu den Verzweifelten im Mietshaus des Wucherers Fürchtegott Lehmann. Sie alle sind ohne Geld, ohne Hoffnung, ohne Glaube, ohne Zukunft.

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Es ist ein düsteres Szenario, das der Dramatiker Ödön von Horvath (1901-1938) in „Niemand - eine Tragödie in sieben Bildern“ entworfen hat. Das erst vor wenigen Jahren wieder aufgetauchte Stück von 1924 erlebte fast 80 Jahre nach dem Tod des Dramatikers am Donnerstagabend im Theater in der Josefstadt in Wien seine Uraufführung.

Sie wurde lebhaft beklatscht. Besonders freundlich war der Applaus für die Hauptdarsteller Florian Teichtmeister als Fürchtegott Lehmann und Gerti Drassl („Vorstadtweiber“) als Ursula - einer Mieterin, die sich aus purem Hunger vom allseits verhassten Vermieter heiraten lässt. Das Stück entstand in der Zeit der Hyper-Inflation, die viele Sparer in der Weimarer Republik um ihr letztes Geld beraubte. Ein Liter Milch kostete im Herbst 1923 die Kleinigkeit von 360 Milliarden Reichsmark. Es war eine Zeit voller Existenzängste, von Geld- und Werteverfall.

Von vorneherein war klar, dass das gut 100-minütige Frühwerk Horvaths nicht an seine späteren Volksstücke wie „Geschichten aus dem Wiener Wald“ oder „Kasimir und Karoline“ heranreichen würde. Schauspieler und selbst Josefstadt-Chef Herbert Föttinger, der die Inszenierung übernommen hatte, hatten auf einige Schwächen bei Text und Ausgestaltung der nicht weniger als 24 Charaktere hingewiesen. Manche Stellen seien „nebulos“, meinte Föttinger.

Ort der Handlung ist das Treppenhaus des Mietshauses. Es ist gelungen trostlos. Mit seinen Eisenstäben als Geländer, dem Neonlicht und den Betonstützen wirkt es wie Gefängnis-Architektur (Bühnenbild Walter Vogelweider).

Seinem Schicksal kann in dieser Umgebung niemand entrinnen. „Niemand“ - der Titelgeber des Stücks, des einzigen, das Horvath ausdrücklich Tragödie nannte, ist für Lehmann „Gott“. Es ist aber vor allem eine Chiffre für das Auslagern von Verantwortung und Engagement. „Niemand hat den Krug zerbrochen“, „Niemand hört zu“, „Niemand ist gerecht“.

Bei zwei Versteigerungen 2006 und 2015 war das bis dato unbekannte Stück unter den Hammer gekommen. Für 11 000 Euro hatte die Wienbibliothek letztlich den Zuschlag erhalten. Die Uraufführung ging an das Theater in der Josefstadt, zum einen wegen dessen langer Horvath-Tradition: Mit „Niemand“ inszenierte das Theater nun zum 25. Mal seit 1945 ein Horvath-Stück. Zum anderen hatte Föttinger versprochen, das Stück besonders werkgetreu aufzuführen: Mit allen 24 Rollen, und obendrein lässt er auch gleich Horvaths Regieanweisungen von den Schauspielern sprechen. Was zunächst merkwürdig wirkt, verleiht dem dramaturgisch teils etwas luftigen Stoff am Ende mehr Dichte.

Angesichts der großen Not der Bewohner ist die Prostitution, ist das Verbrechen, ist der Mord nicht fern. Ausgerechnet ein Ring, mal aus Gold, mal aus Blech, mit der Gravur „Und die Liebe höret nimmer auf“, ist Anlass für Leid. Wirkliches Mitleid findet sich kaum im Stück. Füchtegott Lehmann ist eher ein armer Wicht als ein Teufel, aber trotzdem sind Nähe und wahre Hilfe für ihn unerreichbar. Schließlich will er als Gehbehinderter sogar tanzen lernen - ein fantastisches Ziel als letztes Aufbäumen gegen das Schicksal.

Für Raphael von Bargen, der den Bruder des Wucherers spielt, gibt es zwischen damals und heute grausame Parallelen. Dazu gehörten, „die Skepsis den Anderen gegenüber, dieses Bemühen, den eigenen Vorteil zu sichern und zu sehen, wie Menschen Schicksale erleiden und nicht einzugreifen“, sagte er im Vorfeld der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Aus der Zukunftsangst erwachse „eine erstaunliche Empathielosigkeit, ein unglaublicher Wille, sich nicht auseinanderzusetzen“.

Am Ende ist der behinderte Wucherer tot. Erschöpft gestorben nach einem Rutsch über die Treppen. Seine Frau Ursula meint im Selbstgespräch lakonisch: „Niemand zwingt dich zu leben.“ Oder doch?