Höllenqual Eifersucht: Neumeiers „Purgatorio“

Hamburg (dpa) - Sommer 1910: Der Komponist Gustav Mahler (1860-1911) leidet in der Hölle. Er ist eifersüchtig und verzweifelt. Er hat das Verhältnis seiner Frau Alma zu dem jungen Architekten Walter Gropius entdeckt.

Die Ehekrise spiegelt sich in seiner unvollendeten zehnten Sinfonie.

Deren zentralen dritten Satz hat Mahler mit „Purgatorio“ überschrieben: Fegefeuer. John Neumeier hat die Höllenqualen des Komponisten in eine Choreografie übertragen. Die Uraufführung des Hamburg Ballett am Sonntagabend in der Hamburgischen Staatsoper wurde bejubelt.

Neumeiers „Purgatorio“ ist ein biografisch inspiriertes Tanzdrama über die spannungsvolle Affäre und die emotionalen und kreativen Konflikte eines Künstlers. Musikalisch eingebunden sind das Fragment von Mahlers Zehnter in der Konzertfassung von Deryck Cooke und neun Orchesterlieder von Alma Schindler-Mahler.

Die blaugrün vorbeigleitenden Traumbilder mit den makellos tanzenden und darstellerisch intensiven Solisten begeisterten zum Auftakt der 37. Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper. Das Publikum feierte Ballett-Chef Neumeier und seine exzellenten Tänzer wie auch die Sopranistin Charlotte Margonio und die Dirigentin Simone Young.

Wurde in Neumeiers Ballett „Tod in Venedig“ nach Thomas Manns Roman aus dem Schriftsteller ein Choreograf, so ist auch der Tonsetzer Mahler nun ein Tanzkünstler. Lloyd Riggins mit typischer Mahler-Brille und schwarzem Gehrock ist umgeben von Alter egos und begegnet im leichtfüßig eleganten Alexandre Riabko seinem schöpferischen, ihn beflügelnden Geist. Zu den fünf Sätzen der Zehnten setzt Neumeier in dem von ihm selbst entworfenen Bühnenraum die Qual des kreativen Prozesses über dramatische Tanzbilder in Szene: Mal lähmt Mahler der Schmerz, dann befeuert ihn die Wut des Betrogenen oder inspirieren ihn die Erinnerungen an das Glück der vergangenen Jahre. Er verleiht ihm Ausdruck in den zwei harmonisch unbeschwerten Pas de deux für Anna Laudere und Edvin Revazov.

Vor der Pause zeigt Neumeier die Szenen einer unglücklichen Ehe. Es ist die Kompositionsarbeit, die die kapriziöse schöne Alma (formvollendet: Hélène Bouchet) und ihren Gatten trennt. Wie ein Käfig senkt sich das rote Gerüst von Mahlers Toblacher Komponierhäuschen über ihn. Die Skizzenmappe wird zur einzigen Verbindung des Ehepaars. In dem von Thiago Bordin getanzten Gropius trifft Alma auf einen attraktiven Liebhaber. In den zunächst flüchtigen Zweier-Begegnungen zeigt Neumeier wunderbar, wie Gefühle und Leidenschaft die konventionelle Haltung der beiden aufbrechen und sich in eruptiven Tanzfiguren, den Hebungen und Sprüngen befreien.

Lloyd Riggins, schon Neumeiers ingeniöser Aschenbach in „Tod in Venedig“, übertrifft sich noch in seiner Studie des verzweifelt liebenden Künstlers, dem der Tod am Ende die Erlösung und die spirituelle Verbindung von Geliebter und Mutter im innig entrückten Pas de deux mit Bouchet bringt. Beider hingebungsvolle Leistung belohnte das Publikum zu Recht mit Ovationen. Hier erscheint noch einmal der emotionale Kern des Balletts, in dem Neumeier eines seiner Hauptthemen umkreist: Die Passion des durch seine Begabung einsamen Künstlers und dessen Kampf zwischen Eros und Auftrag, Leben und Werk.