Parforce-Ritt in Duisburg: Andriessens „De Materie“
Duisburg (dpa) - In seinem letzten Jahr als Ruhrtriennale-Intendant inszeniert Heiner Goebbels die Anti-Oper „De Materie“ - ein ambitionierter Auftakt in ästhetischen Bildern.
Als Heiner Goebbels vor zwei Jahren seine erste Spielzeit als Intendant der Ruhrtriennale eröffnete, gab er zu Protokoll, es gebe überhaupt keinen Grund, einem Zuschauer Komplexität zu ersparen. Dieser ambitionierten programmatischen Marschrichtung ist Goebbels wohl nie konsequenter gefolgt als nun bei der Eröffnung seiner letzten Spielzeit mit der Inszenierung von Louis Andriessens Musiktheater „De Materie“, die am Freitagabend (15. August) in der Duisburger Kraftzentrale dem staunenden Premierenpublikum einen zunächst noch zögerlichen Schlussapplaus entlockte.
Denn die Anti-Oper des 75-jährigen niederländischen Komponisten ist nichts Geringeres als eine enzyklopädisch angelegte Reflexion über das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Materie und zugleich ein Parforce-Ritt durch die abendländische Geistesgeschichte aus der Perspektive der Niederlande.
Schon die Ouvertüre ist eine heilsame Verstörung: Wie ein Peitschenhieb durchschneidet ein scharfer Akkord die Luft der Duisburger Kraftzentrale und hallt noch zitternd nach. Dann wiederholt sich der Akkord, wieder und wieder, immer schneller. Einhundertvierundvierzig Mal gellt der orchestrale Aufschrei durch den riesigen Raum, in den Klaus Grünberg sechs Baracken-Zelte gebaut hat, über denen drei ferngesteuerte, geheimnisvoll leuchtende Zeppeline lautlos ihre Bahnen ziehen.
Später deutet Grünberg mit wenigen kahlen Bänken einen sakralen Kathedralen-Raum an, dann schwingen riesige Pendel mit leuchtenden Lichtkreisen nach der Art von Alexander Calders magischen Mobiles durch den Raum, während zwei Tänzer als rasend beschleunigte Wiedergänger von Fred Astaire zu Boogie-Woogie-Klängen herumturnen, bevor etwa hundert leibhaftige Schafe sehr langsam und heiter blökend den Raum vermessen.
„De Materie“ bietet keine Handlung im Sinn einer traditionellen Oper, sondern eröffnet vier Tableaus, die markante Momente der niederländischen Kulturgeschichte beleuchten: Der erste Teil spielt im Frühbarock und kreist neben einer Anleitung zum Schiffbau um den Theologen David Gorlaeus, der im Jahr 1610 eine frühe Atomtheorie entwickelte.
Der zweite Teil erinnert an die Mystikerin Hadewijch und ihre erotischen Phantasien von der Liebe zwischen Mensch und Gott, der dritte, vom Boogie-Woogie inspirierte Teil ist Piet Mondrian und der Bewegung „De Stijl“ gewidmet, während der Abgesang des letzten Teils sich der Forscherin Marie Curie widmet.
Bereits 1989 kam Louis Andriessens monumentales, und doch stets ironisch grundiertes Musiktheater in Amsterdam zur Uraufführung und ist seither niemals wieder szenisch realisiert worden. Andriessen gilt als wichtigster lebender Komponist der Niederlande, das Oeuvre des 75-Jährigen umfasst nahezu alle Gattungen. Seine Musik spiegelt Einflüsse von Bach über Strawinsky bis hin zu den amerikanischen Minimalisten und kennt keine Berührungsängste vor Jazz-Anleihen, Boogie-Woogie oder sogar Rap.
In Duisburg ist seine hoch komplexe Partitur in den besten Händen: Peter Rundel bündelt am Pult mit dem Ensemble Modern Orchestra das Geschehen in der heiklen Akustik der monströsen Halle souverän, beschönigt die ruppigen Momente nicht und kostet Anleihen an die Unterhaltungsmusik mit Wonne aus. Auch die acht handverlesenen Mitglieder des ChorWerk Ruhr leisten Außergewöhnliches, ebenso Robin Tritschler als Gorleus und Evgeniya Sotnikova als Hadewijch.
Es sind überwiegend ruhige, poetische, in ihrer konsequenten Reduktion ungeheuer ästhetische Bilder, die Regisseur Heiner Goebbels Andriessens sehr motorischer, teils mit manischem Drive vorandrängender Musik entgegen setzt. Die Wirkung ist verblüffend und erhellend zugleich, auch wenn sich manche Strecken in die Länge ziehen. Insgesamt aber ist „De Materie“ eine starke, überzeugende Auftakt-Produktion der Ära Goebbels bei der Ruhrtriennale.