Triumph für Edgar Selge in Houellebecqs „Unterwerfung“
Hamburg (dpa) - Das Kreuz erscheint hier keineswegs als traditionelles Kruzifix, ruhig und fest an der Wand. Vielmehr zeigt sich das Ursymbol des Christentums und des christlichen Europas als Hohlkörper, ausgeschnitten aus einer dicken metallischen Mauer.
Nahezu ständig rotiert es in einer Scheibe — liegt mal quer oder steht auf dem Kopf. Dieser windige kubische Raum, geschaffen von Bühnenbildner Olaf Altmann, gerät am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zur aussagestarken, wenngleich auch plakativen Plattform für Michel Houellebecqs für Furore sorgende Roman-Utopie „Unterwerfung“. Denn darin fläzt, rutscht und räkelt sich immer wieder Edgar Selge und sehnt sich nach Erlösung.
In einem grandiosen, fast dreistündigen Monolog verkörpert der Starmime Selge (67, „Miss Sixty“) die bitter-ironische sozialkritische Geschichte über die schleichende Islamisierung eines kulturell ausgehöhlten Frankreichs im Jahr 2022. Zunächst im schlecht sitzenden Anzug, am Ende in einem orientalischen Gewand, gibt er einen orientierungs- und bindungslosen Intellektuellen auf der Suche nach so etwas wie Glauben.
Dafür erhielt Selge am Samstagabend vom Uraufführungspublikum im ausverkauften Haus Jubel und Ovationen im Stehen. Kurz nachdem das Buch Anfang Januar 2015 erschienen war, hatte es in Paris den Terror-Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ gegeben. Auf dessen aktuellem Titel war eine Karikatur Houellebecqs abgedruckt.
Inszeniert wurde das Bühnensolo, das nur durch mal jazzige, mal arabisch wirkende Klänge (von Daniel Regenberg) akzentuiert wird, von Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier. Sie verantwortet mit Dramaturgin Rita Thiele auch die gekürzte Textfassung. Selge ähnelt äußerlich dem eher hageren, zerstreut wirkenden Pariser Autor, der seinen Roman mit einem Ich-Erzähler angelegt hat. Noch recht munter und naiv, dank seiner Stellung als Uni-Literaturprofessor scheinbar fest im Sattel sitzend, gibt der 67-jährige Schauspieler als François zu Anfang Einblicke in sein prekäres Liebesleben.
An Familiengründung ist für den Über-Vierzigjährigen dabei nicht zu denken, denn allein Sex ist für ihn Thema. Liaisons mit Studentinnen laufen jedoch regelmäßig ins Leere. Sachlich und witzig gestaltet Selge solche Aussagen. Gern doziert er, eine Hand in der Hosentasche, mit dem rechten Zeigefinger in der Luft kreisend. Und kommt oft auf Größen der Geistesgeschichte wie den religiös gewordenen Romancier Huysmans (1848-1907) zurück.
Sehr schwer trifft es François in dem Stück, als eine Angebetete mit ihrer Familie nach Israel gehen will. Als Juden fühlen sie sich in Frankreich nicht mehr sicher. Denn dort wandeln sich langsam, aber unaufhaltsam die Machtverhältnisse: Um nach sozialen Unruhen den Wahlsieg der Rechten zu verhindern, schmieden Mitte-Links-Parteien eine Koalition mit einer Muslim-Bruderschaft. Deren Chef Ben Abbès gibt sich gemäßigt, sorgt aber über Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten für eine Veränderung des Landes im Sinne der Islamisten — Lehrer werden entlassen, das Patriarchat wieder eingeführt. Vielweiberei ist erwünscht. Frauen heiraten früh, um viele Kinder zu bekommen. Drei Burka-Trägerinnen huschen am Ende denn auch über die Bühne. Da ist das Kreuz längst gekippt.
Der rückgratlose François, der seinen Job bald verliert, verwandelt sich bei Selge in einen tragischen Clown, der vor allem über Hautausschlag klagt. Immer dürftiger und fahriger erscheint er, verschmiert sein Gesicht mit Blut und weißer Salbe. Wenn er überhaupt für etwas steht, dann für den Niedergang einer Gesellschaft, die ihre eigenen Werte kaum mehr kennt und nicht für sie einzutreten wagt. Im Buch ist das stärker als auf der Bühne linken Baby-Boomern anzulasten. Hier wie dort ist die Geschichte weniger als Islam-Kritik zu verstehen — sondern als Abrechnung mit einer saturierten, saft- und kraftlosen europäischen Alt-Gesellschaft.
Der Siegeszug von Houellebecqs Geschichte aber geht weiter. Auch das Staatsschauspiel Dresden (Premiere: 5. März) und das Deutsche Theater Berlin (22. April) haben die düstere Satire auf ihre Spielpläne gesetzt. Und die Hamburger Inszenierung ist bereits Ende dieses Monats zum Festival „Brandhaarden“ in Amsterdam eingeladen.