Couch-Kino Vom Familienvater zum Drogenboss

Auch sieben Jahre nach ihrem Ende gibt es sehr viele gute Gründe, jetzt in die US-Drama-Serie einzusteigen und Walter White bei einem einmaligen Aufstieg und Niedergang zu begleiten.

Jesse (Aaron Paul, vorne) wird im Laufe der Serie von Strippenzieher Walter White (Bryan Cranston) immer tiefer in den Abgrund gezogen. Alle fünf Staffeln der Serie sind auf Netflix verfügbar.

Foto: picture alliance / dpa/Frank Ockenfels 3/ Sony Pitures

Zugegeben: Die Serie „Breaking Bad“ ist vielleicht das Gegenteil eines Geheimtipps. In den Jahren 2010 bis 2013 hat die Drama-Serie um den Chemie-Lehrer Walter White (Bryan Cranston), der gemeinsam mit seinem ehemaligen Schüler (Aaron Paul) zum Drogen-Hersteller wird, Fans und Kritiker in nahezu rauschhafte Ekstase versetzt. Die Serie gewann in ihrer mehr als fünfjährigen Laufzeit 16 Emmys (der Serien-Oscar in den USA) und vereinte 58-Emmy-Nominierungen auf sich. Auf der amerikanischen Kritiker- und Community-Seite „Rotten Tomatoes“ erzielten vier der fünf Staffeln eine durchschnittliche Wertung von 100 aus 100. Das filmische Handwerk wird dabei ebenso überschwänglich gelobt wie die Schauspieler. Anthony Hopkins soll Hauptdarsteller Bryan Cranston in einem persönlichen Brief geschrieben haben, er habe in seiner Rolle als Walter White die beste schauspielerische Leistung abgeliefert, die er je gesehen hat.

Bis zum heutigen Tag gibt es trotz allen Lobpreisungen Breaking-Bad-Skeptiker. Sie stellen Fragen wie: Ist diese Serie mit der trashig anmutenden Prämisse wirklich so gut? Lohnt es sich, im Jahr 2020, mehr als sieben Jahre nach der letzten Ausstrahlung, in den „Breaking Bad“-Kosmos einzusteigen? Soll ich auch weiter schauen, wenn ich die ersten Folgen langweilig fand? Die Antwort lautet drei Mal: ja. Ohne Einschränkung.

Was „Breaking Bad“ von anderen Serien unterscheidet: Serienschöpfer Vince Gilligan macht alle Fans zum Komplizen. Er setzt dem Zuschauer mit Walter White in der allerersten Folge zunächst einmal einen Protagonisten zum Mitfiebern vor. Eine arme Sau, die am Ende der Fahnenstange angekommen ist. Der Highschool-Lehrer muss sich mit einem Zweitjob bei einer Waschanlage über Wasser halten, um seine Frau Skyler (Anna Gunn) und den an einer Bewegungsstörung erkrankten Sohn Walter Jr. (R.J. Mitte) durchzufüttern. Als bei ihm dann auch noch Lungenkrebs diagnostiziert wird, wirkt Walter zunächst gar nicht so erschrocken. Später sagt er über seinen neuen Zustand als Todgeweihten: „Ich bin wach.“ Mit dem Rücken zur Wand entschließt sich der Familienvater, sein ausgezeichnetes Wissen um die Künste der Chemie endlich einmal so richtig lohnend einzusetzen. Er „kocht“ die Droge Crystal Meth. Es ist ein Stück weit eine Geschichte aus dem amerikanischen Alptraum, denn Walter White hat zunächst ganz pragmatische Gründe, sich in die Illegalität zu bewegen. Wegen des maroden Gesundheitssystems würde Walter White nicht nur ohne ein Vermächtnis aus dem Leben scheiden, er würde seiner Familie auch einen Berg aus Arzt- und Krankenhausrechnungen hinterlassen. An dieser Stelle setzt die Geschichte der Serie ein. Und als Walter White seine ersten zaghaften Gehversuche im Drogengeschäft macht, drückt der Komplize Zuschauer noch ein Auge zu. Wie bei einem Labor-Versuch kreieren die Macher die perfekten Umstände, in denen ein vermeintlich anständiger Mensch wie Walter nachvollziehbar aus der Kurve geworfen wird.

Die Serie wird aber im Laufe der 62 Folgen zu einem moralischen Härtetest. Denn das Geschäft mit den tödlichen Kristallen ist nicht so einfach und sauber, wie der Familienvater mit den beige-farbenen Hosen sich das vorgestellt hat. Immer wieder überschreitet der Protagonist neue Grenzen. Muss sie überschreiten, will sie überschreiten. Walter White kann am Ende fast alles rechtfertigen.

Spannend ist, wie lange das der Zuschauer mitmacht. Es ist eine Odyssee durch alle moralischen Graustufen bis hinein in den tiefschwarzen Abgrund einer gekränkten Seele. Viele Fans haben sehr lange mit Walter White mitgefiebert. Niemand bis zum Ende. Vince Gilligan kündigte schon zu Beginn der Serie an, dass er Walter von „Mister Chips“ (dem gutherzigen Lehrer) zu „Scarface“ (dem Gangsterboss) wandeln wollte.

Diese Mission verfolgen die Autoren der Serie bis zur letzten Konsequenz. Die Handlung wird daher seriell erzählt, nicht episodisch. Jedes Versatzstück baut aufeinander auf. Jeder Handlungsstrang setzt sich von Folge zu Folge fort. Auch wenn die Serie viele schillernde Nebenfiguren erschaffen hat, wie etwa den kriminellen Anwalt Saul Goodman (Bob Odenkirk) oder den Drogen-Kingpin Gus Fring (Giancarlo Esposito): Im Gegensatz zu anderen Serien verliert sich Breaking Bad nicht in B- und C-Storys. Alle Figuren kreisen um die Geschichte von Walter White. Seine Entscheidungen beeinflussen alles und jeden. Karma spielt eine große Rolle in diesem Universum.

Breaking Bad ist dramaturgisch eine Achterbahnfahrt. Die Autoren um Vince Gilligan, Thomas Schnauz oder George Mastras (alles ehemalige Akte X-Schreiber) wissen ganz genau, dass jedem echten Absturz ein langsamer Aufstieg vorausgeht. Und so werden die Zuschauer in Breaking Bad manchmal für mehrere Folgen gemächlich auf den nahenden Abgrund zugezogen. Auf langsame Charakterstudien und clevere Plot-Manöver folgen Action-Szenen, die den Zuschauer mit kräftigen Adrenalin-Schüben versorgen. Walter White kämpft immer an mindestens zwei Fronten - gegen das Scheitern seiner Ehe und den gewaltsamen Tod durch seine Rivalen. Wer bislang noch keine einzige Szene dieser Serie gesehen hat, denkt jetzt wahrscheinlich an ein paar sehr düstere Stunden zwischen Chemo-Therapie und Leichenbergen. Doch Breaking Bad ist zu allem Überfluss über sehr weite Strecken unheimlich witzig - wenn der Humor auch immer tiefschwarz ist. Serien-Erfinder Vince Gilligan hat einmal gesagt, er interessiert sich für die „Zwischenmomente“, die in anderen Serien ausgespart werden. Wie genau lässt man als Nicht-Krimineller eigentlich zwei Leichen verschwinden und was kann dabei alles schief gehen? Wie verkleidet sich ein Familienvater vor einem Drogendeal? Oftmals spielt die Serie mit gängigen Kriminal-Klischees und lässt Walter Whites Pläne kläglich an der banalen Realität scheitern.

Ganz nebenbei setzte Breaking Bad vor mehr als zehn Jahren visuell neue Maßstäbe für Serien. Handwerklich übertreffen sich die Profis am Set von Folge zu Folge. Kamera-Chef Michael Slovis lässt mit seinen atemberaubenden Weitwinkel-Aufnahmen die imposante Landschaft New Mexikos zum eigenen Charakter werden. Hochklassige Regisseure wie etwa Michelle MacLaren („The Walking Dead“, „Game of Thrones“) suchen immer nach neuen ausgefuchsten Kamerawinkeln, filmen aus dem Inneren von Waschmaschinen, Kofferräumen und Toiletten, heften die Kamera an Fahrräder und Rollstühle und lassen sie sogar in einer spektakulären (wenn auch digital stark bearbeiteten) Szene aus einem Flugzeug direkt in den Swimming-Pool von Walter White fallen.

Wer nach der letzten Folge schweißgebadet die Fernbedienung aus der Hand gleiten lässt, will mit Sicherheit mehr. Da bietet sich dann die Spin-Off-Serie „Better Call Saul“ an, dessen sechste und letzte Staffel 2021 ausgestrahlt werden soll. Und dann gibt es noch den „Breaking Bad“-Film „El Camino“, der eine Art Epilog zu der Serie ist. Und wer dann gerne einmal sehen will, wie deutsche Jugendliche aus der Mittelschicht ins Drogengeschäft einsteigen, der schaut dann am besten noch „How to sell drugs online (Fast)“. Zwar machen diese Serien alle hochgradig abhängig, doch ein Schuldbewusstsein fehlt dem Autor dieser Zeilen ebenso wie Walter White. Frei nach dem Motto: „Wenigstens ist dieser Stoff der beste auf dem Markt.“