Couch-Kino „Zeit der Geheimnisse“: Dünen, Damen, Dramen
Die Netflix-Miniserie „Zeit der Geheimnisse“ ist ein geerdeter Weihnachtsfilm, der eine Familiensaga über drei Jahrzehnte erzählt. An der Nordsee prallen Frauen aus unterschiedlichen Generationen zusammen wie die Wellen im Meer.
Mit Weihnachtsfilmen ist das so eine Sache. Wenn sich ein fiktiver Stoff mit diesem Etikett auf den Markt wagt, erwarten viele Zuschauer nicht weniger als ein emotionales Offenbarungserlebnis. Bei dem Versuch, ein wohliges Weihnachtsgefühl herauszukitzeln, sind schon einige Filmemacher übers Ziel hinausgeschossen. Und zu viel zuckersüß löst bekanntlich Diabetes aus.
Erfrischend sind da Produktionen, die das Weihnachtsthema bewusst in der Realität erden. Und die Realität zu Weihnachten beinhaltet auch schon mal menschliche Konflikte. Gerade wenn sich eine Familie zwischen Januar und Mitte Dezember lieber aus dem Weg geht und plötzlich ein „Fest der Liebe“ feiern soll. Da offenbart sich viel Konfliktpotential, das über die richtige Verkabelung der Weihnachtsbeleuchtung hinausgeht. Die dreiteilige Netflix-Miniserie „Zeit der Geheimnisse“ ist da so ein sehenswertes Beispiel. Schon das Setting ist für einen festlichen Stoff unerwartet: Regisseurin Samira Rasi („Tatort“) lässt die Protagonisten nicht selig in einem schneebedeckten Haus am Kamin sitzen, sondern zwischen Nordsee-Dünen streiten.
Die Würze im Weihnachtsbraten, den Autorin Katharina Eyssen hier aufgetischt hat, ist die Erzählstruktur. Die Mini-Serie - die auch als ein Spielfilm in Normallänge funktioniert hätte - springt zwischen drei Weihnachtsfesten einer Familie hin und her: 1989, 2004 und 2019. Dieser strukturelle Kniff hilft dem Zuschauer dabei, die über Jahrzehnte gewachsenen Beziehungen der Protagonistinnen zu verstehen. Einmal sagt die Erzählerin: „Die Frauen in dieser Familie sind wie die Wellen auf dem Meer. Sie stoßen sich ab, sie ziehen sich an.“ Wenn man die Serie in einem einzigen Bild wiedergeben müsste, wäre es das.
Männer sind Nebenfiguren in dieser Geschichte. Dreh- und Angelpunkte des Dramas sind Großmütter, Mütter und Töchter. Da ist Eva (Corinna Harfouch, „Tatort“), die 1989 zu Weihnachten von ihrer Tochter Sonja (Christiane Paul, „Die Welle“) erfahren muss, dass diese ihr Jura-Studium abgebrochen hat und jetzt auch noch mit ihrem neuen revolutionären Freund Peter nach Kolumbien entschwinden will. Wohin Sonjas Lebensweg sie führen soll, erfahren wir 2004. Eva ist Mutter von Vivi (Svenja Jung, „Fucking Berlin“) und Lara (Leonie Benesch, „Babylon Berlin“), die charakterlich so verschieden sind wie ihre jeweiligen Väter. Weil Sonja mit ihrer Rolle als Besuchsmutter - Großmutter Eva zieht die Kinder auf - überfordert ist, haut sie noch vor dem Weihnachtsfest wieder nach Ibiza ab. Mit ihrer neuen Liebhaberin. 2019 kommt Sonja als vermeintlich neuer Mensch wieder und will die Fehler der Vergangenheit aufarbeiten. Ein wenig spät, finden Lara und Vivi, die mittlerweile ihre ganz eigenen Lebens- und Liebesprobleme haben. Und dann gibt es da noch ein paar Geheimnisse: eine Waffe, mysteriöse letzte Worte und einen unerwarteten Besucher. Genug Stoff also, um die Familiensaga kurzweilig zu machen.
Von 2000 bis 2010 hat sich in Deutschland die Zahl der DVD-Ausleihen halbiert. Inzwischen sind Videotheken so exotisch wie Schallplattenläden und Telefonzellen. Filme und Serien in hochauflösender Qualität sind heute rund um die Uhr bei diversen Streamingdiensten abrufbar. Und der Streaming-Boom wurde durch die Corona-Krise weiter befeuert – unser Redakteur Daniel Neukirchen gibt Tipps zu digitalen Film- und Serien-Schätzen.
Es ist sehr zu empfehlen, sich die drei Teile der Miniserie am Stück anzusehen. Das erhöht das emotionale Investment, welches das Herz dieser Geschichte ist, und hilft dabei, nicht die Orientierung zu verlieren. Denn bereits in der ersten Folge tauchen fast alle Figuren in jeder der drei Zeitebenen einmal auf, so dass eine kurze Eingewöhnungszeit nötig ist, bis alle Beziehungen der Frauen zueinander im Gedächtnis eingesunken sind. Zudem geht der Konsum von „Zeit der Geheimnisse“ an einem Stück nicht einmal als echter „Serien-Marathon“ durch: In unter zwei Stunden sind alle Geheimnisse gelüftet. Die Figuren sind gescheitert, waren auch mal erfolgreich, haben sich mitunter witzige Dialoge geliefert und durften vielleicht mit etwas Glück etwas über sich lernen. Da braucht es dann gar kein Heiligabend-Wunder für ein paar echte und vor allem verdiente Weihnachtsgefühle.