Couch-Kino „I’m Thinking of Ending Things“: Liebe Welt, ich mache Schluss

Der Netflix-Film von Charlie Kaufman nimmt die Zuschauer mit auf den wohl deprimierendsten Road-Trip der Filmgeschichte - ein faszinierendes Werk übers Loslassen

 Jake und Lucy bahnen sich ihren Weg durch die verschneite Nacht. Ein glückliches Paar auf Reisen sieht anders aus.

Jake und Lucy bahnen sich ihren Weg durch die verschneite Nacht. Ein glückliches Paar auf Reisen sieht anders aus.

Foto: Mary Cybulski/NETFLIX

Eine Frau und ein Mann mittleren Alters fahren in einem Auto durch eine verschneite Landschaft. Es geht zu seinen Eltern. Die Beifahrerin Lucy (Jessie Buckley, „Chernobyl“) will den Trip eigentlich gar nicht mehr so richtig, hat vielleicht einmal zu viel „ja“ gesagt und fährt plötzlich mit diesem gutherzigen Ekzentriker Jake (Jesse Plemons, „Breaking Bad“) in die amerikanische Einöde. Kein Gespräch in diesem Auto findet so richtig einen Rythmus und das Abendessen mit den sonderbaren Eltern (David Thewlis, „Harry Potter“, und Toni Collette, „The Sixth Sense“) wird später noch verkrampfter. Er denkt: Mit der verbringe ich den Rest meines Lebens. Sie denkt: Vielleicht sollte ich Schluss machen. Genau wie es der Filmtitel vermuten lässt.

Das alles könnte der Auftakt zu einer romantischen Komödie  oder einem Herzschmerzdrama sein. Doch dann wird es mysteriös. Auf der Farm der Eltern angekommen, passieren merkwürdige Dinge. Die Mutter winkt zur Begrüßung wie besessen aus dem Fenster, die Kellertür ist voller Kratzspuren und zugeklebt. Und warum hängt da ein Kinderfoto von Lucy im Wohnzimmer? Die Geschehnisse werden immer skurriler und als die Realität von Lucy und Jake mit jeder Filmminute mehr und mehr auseinanderbröckelt, muss der Zuschauer realisieren: Dieser Film hat mindestens einen doppelten Boden.

Kein Wunder bei Autor und Regisseur Charlie Kaufman, der für seine ausgefallenen Autorenfilme bekannt wurde. Größere Berühmtheit erlangte er 1999 mit „Being John Malkovich“, eine grandiose Komödie über einen arbeitslosen Puppenspieler (John Cusack), der einen Tunnel in das Bewusstsein des Schauspielers John Malkovich findet. Kaufman malt in seinen Werken nur zu gerne über alle Linien hinweg. Er spielt mit Bewusstseinsebenen („Vergiss mein nicht“), schreibt sich selbst und einen erfundenen Zwillingsbruder in den Film („Adaption“), lässt die Schauspieler direkt in die Kamera schauen (wie in diesem Film) oder ersetzt sie gleich ganz durch Puppen aus dem 3D-Drucker („Anomalisa“). Mit „I’m Thinking of Ending Things“ entfernt sich Kaufman wieder einmal ziemlich weit von konventionellen Sehgewohnheiten. Stellenweise erinnert die Netflix-Exlusiv-Veröffentlichung an die Handschrift von David Lynch.

Daher an dieser Stelle drei Warnungen. 1.) Der Film ist auf seine Art grandios, aber nur für Zuschauer, die Arthouse-Kino mögen und gerne einen Film aktiv entschlüsseln wollen. Die Handlung in „I’m Thinking of Ending Things“ wird ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr durch Zeit und Logik zusammengehalten, sondern durch seine Motive. 2.) Weil das Suchen nach Sinn und Bedeutung Teil des Reizes dieses Films ist, kann es unter Umständen ratsam sein, nach diesem Absatz mit dem Lesen auszusetzen und sich unvoreingenommen auf die Reise von Lucy und Jake zu begeben. 3.) Dieser Film ist aufgeladen mit einer schweren Melancholie. Die Landschaft ist deprimierend, die Gesichter der Figuren vom Leben gezeichnet, ihre Gedanken depressiv und ihre Beziehungen dysfunktional. Verständlich, wenn so ein Film in einem düsteren Corona-Winter vielleicht die falsche Kost ist. Oder ist es gerade die richtige? Kaufmans Film kann auch eine Katharsis bewirken. Die Wärme nach dem Eisbad.

Wer den verschneiten Weg mit Charlie Kaufman geht, den beschleicht irgendwann das dumpfe Gefühl, dass sich das „Schlussmachen“ aus dem Filmtitel nicht auf eine Beziehung, sondern auf ein Leben bezieht. Da ist nämlich dieser komische Hausmeister, der ganz offensichtlich in Jakes Elternhaus lebt. In Zwischenschnitten erfährt der Zuschauer immer mehr von ihm. Irgendwie scheint der alte Mann mit dem dicken Bauch nicht die größte Frohnatur zu sein. Wie ein Geist wandelt er durch die Hallen seiner ehemaligen Highschool, in der er jetzt arbeitet. Verlacht von den Mädchen, damals wie heute. Seinen kleinen ländlichen Kosmos hat der gute Mann sein ganzes Leben lang nie verlassen. Seine Träume blieben Träume. Seine Leidenschaft für die Wissenschaft - unausgeschöpft. Seine gemalten Landschaftsbilder verstauben im Keller. Offenbar ist dieser Mensch nie falsch abgebogen, aber auch nie richtig. Von der Geburt bis kurz vor den Tod ging es immer geradeaus. Unspektakulär. Ohne Spannungsbogen. Völlig unfilmisch.

Was haben die beiden Geschichten miteinander zu tun? Kaufman erzeugt Assoziationsketten, die nahelegen, dass Jakes Ausflug mit Lucy das Date ist, was der alte Mann niemals hatte. So erklären sich auch die vielen merkwürdigen Begebenheiten. Lucys Versuch, die Geschichte vom gemeinsamen Kennenlernen des jungen Paares zu erzählen, ist unstimmig. Weil es wahrscheinlich nie stattgefunden hat. Später nennt Jake seine Begleitung plötzlich Louisa oder Lucia. Vielleicht heißt sie ganz anders. Sie ist Malerin und Wissenschaftlerin. Alles was Jake sein wollte. Sie ist die personifizierte Sehnsucht eines Mannes am Ende der Fahnenstange. Die Fahrt durch den Schnee könnte eine Reise durch das ungelebte Leben des Hausmeisters sein. Der tragische Twist: Lucy offenbart sich selbst in dieser Fantasie als Fremdkörper.

„I’m Thinking of Ending Things“ präsentiert sich in gewisser Hinsicht als Anti-Film. Weil er ein Leben beleichtet, das normalerweise nicht interessant genug erscheint, um fiktional aufgearbeitet zu werden. Weil Hausmeister Jake kein Held ist. Weil er keine Wandlung durchlebt hat. Weil er nirgendwo angekommen ist. Weil er irgendwann einfach stehengeblieb. Weil er noch nicht einmal damals diese eine Chance ergriffen hat. An dem Abend als er die junge Frau sah, die ihm offenbar in Erinnerung geblieben ist.

Einmal sagt seine Lucy ihm: „Tiere leben im Moment. Menschen können das nicht. Darum haben sie die Hoffnung erfunden.“ Der Hausmeister schaut gerne romantische Komödien mit Happy-End und verliert sich an seiner Schule in den Musical-Aufführungen der Jugendlichen. Lucy spricht im Auto zynisch von der Vorstellung, dass sich am Ende eben alles fügt.  Als würde ein Autor die Geschichte eines Menschen zwangsläufig zu einem vorbestimmten Ziel führen. Dieses Denken sei wie ein Virus, den sich die Menschen über Filme, Musik und Literatur einfangen können. Dass Jake offenbar von Popkultur infiziert ist, zeigt sich an den vielen Literatur- und Film-Zitaten. Und wird schließlich damit auf die Spitze getrieben, dass Kaufman irgendwann einfach eine herzergreifende Szene aus dem Ron-Howard-Film „A Beautiful Mind“ fast eins zu eins in seinen Film montiert. Das ist aber nur einer der völlig surrealen Ausflüge, die er sich bei der Inszenierung der Geschichte erlaubt, die ursprünglich auf einer Novelle von Iain Reid basiert.

„I’m Thinking of Ending Things“ ist Kaufmans bislang ausgeklügeltste Regiearbeit. Das 4:3-Bildformat wählte der Oscar-Preisträger wohl, um die Figuren noch mehr einzuengen. Er gesteht ihnen gerade den Wirkungsraum eines Röhrenfernsehers zu. In vielen Szenen spielt der Regisseur mit Distanz und Distanzlosigkeit. Mal schaut die Kamera wie ein Außenstehender durch das starke Schneetreiben oder die verdreckte Windschutzscheibe. Dann zoomt sie plötzlich unangenehm nah an die Gesichter der Akteure, zerrt alle Makel ans Licht. Nicht nur durch sein Spitzenhandwerk gelingt es dem verschrobenen Filmkünstler, seine Zuschauer mehr als zwei Stunden an den Bildschirm festzufrieren. Und das mit einem schwer verdaulichen Thema, das aus sich heraus so schillernd ist wie ein Laib Schwarzbrot.