"Boyhood": Zusehen, wie die Zeit vergeht
Richard Linklaters „Boyhood“ ist eine Zeitreise — über zwölf Jahre mit den stets gleichen Darstellern gedreht.
Düsseldorf. Nach seiner umjubelten Aufführung im Wettbewerb der Berlinale galt Richard Linklaters „Boyhood“ als großer Favorit für den Goldenen Bären. Für viele Kritiker war das Porträt eines heranwachsenden texanischen Jungen „das“ Ereignis der Filmfestspiele 2014. Immerhin arbeitete Linklater — bekannt durch seine Trilogie „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnight“ — für die Langzeitstudie über zwölf Jahre hinweg mit den immer gleichen Darstellern, jedes Jahr für ein paar Drehtage. Das ungewöhnliche Projekt ist geglückt, wenn es auch bei der Berlinale „nur“ den Silbernen Bären für die beste Regie gab. Besetzt hat Linklater die Hauptrolle des Mason mit Newcomer Ellar Coltrane, flankiert von den erfahrenen Mimen Ethan Hawke („Tödliche Entscheidung“) und Patricia Arquette („True Romance“) in der Rolle der Eltern.
Mason ist ein verträumter und doch aufgeweckter, recht normaler Sechsjähriger, der im Unterwäschekatalog blättert, sich mit seiner älteren Schwester Samantha (gespielt von Linklaters Tochter Lorelei) kabbelt und bisweilen einfach nur versonnen in den Himmel blickt.
All die Veränderungen und Probleme aber, die Kindheit und Jugend so mit sich bringen, hinterlassen auch bei Mason Spuren: der Umzug nach Houston mit Mutter und Schwester, das plötzliche Wiederauftauchen seines leiblichen Vaters, die Brutalität des Stiefvaters, die Wirrnisse der Pubertät und der ersten Liebe, die Frage, wie es weitergeht nach der Schule.
Linklater hat Masons Jugend in viele kleine Episoden zerlegt — zwölf für seinen Protagonisten und dessen Erwachsenwerden immens wichtige Jahre.
Das Miteinander der Darsteller ist so rührend wie überzeugend. Es ist mitreißend zu sehen, wie Ellar Coltrane als weitgehend unerfahrener sechsjähriger Schauspieler loslegt, um im Verlauf des Films nicht nur mit seiner Rolle, sondern auch sukzessive in diese hinein zu wachsen. Ethan Hawke besticht als bemühter, dabei jedoch stets lässiger Teilzeit-Dad.
Tatsächlich überraschend ist Patricia Arquettes Spiel, die man in den vergangenen Jahren selten auf der Kinoleinwand gesehen hat. Die Entwicklung von der völlig überforderten alleinerziehenden Mutter zur selbstbewussten Uni-Dozentin, die Olivia in „Boyhood“ durchläuft, wird von Arquette mit Leidenschaft nicht nur dargestellt, sondern spürbar gemacht.
„Boyhood“ ist mehr als eine übliche Coming-of-Age-Story amerikanischer Prägung — epische Filmerzählung genauso wie geglücktes Experiment, fiktive Chronik einer Jugend genauso wie eine Art Langzeit-Doku. Linklater, den als Filmemacher die Frage, was das Vergehen der Zeit mit uns macht, sehr beschäftigt, zeigt in „Boyhood“ nicht weniger als das Leben.
Dass es dafür nur 39 über zwölf Jahre verteilte Drehtage bedurfte, macht das „Boyhood“-Wunder noch größer.
WZ-Wertung: Vier von fünf Punkten