Der Racheengel aus dem Eis
„Wer ist Hanna?“ überzeugt durch eine tolle Hauptdarstellerin und große visuelle Energie.
„Ich habe dein Herz verfehlt“ — ein Film, der mit einem solchen Satz anfängt, hat schon gewonnen. Auch wenn hier nicht Amor seinen Pfeil auf einen Liebeskranken, sondern ein junges Mädchen auf einen Hirsch geschossen hat.
Schnell und entschlossen ist Hanna (Saoirse Ronan, ausgesprochen „sier-shä“) dem blutenden Tier durch die tief verschneiten Wälder hinterhergerannt.
Als sie vor dem gefallenen Wild kniet, liegt ein kurzer Moment der Zärtlichkeit in dem Bild, bis sie dem Hirsch den Gnadenschuss gibt. Ein Mann (Eric Bana) springt aus dem Gebüsch.
„Du bist tot“ sagt er, und die beiden beginnen eine Rauferei nach allen Regeln fernöstlicher Kampfkunst, aus der das Mädchen als Siegerin hervorgeht. „Den Hirsch kannst du allein nach Hause tragen“ sagt der Bärtige und verschwindet.
Die ersten zehn Minuten von Joe Wrights außergewöhnlichem Action-Thriller „Wer ist Hanna?“ sind furios und rätselhaft. Saoirse Ronan spielt Hanna, und diese 17-jährige Schauspielerin ist ein ungemein wertvolles Geschenk für das Kino.
Also, wer ist diese Hanna, die mit ihrem Vater in einer Blockhütte im Wald wohnt? Die Beantwortung dieser Frage dauert 111 Filmminuten — jede davon ist spannend.
Der Vater, ein ehemaliger CIA-Agent, hat seine Tochter in der Abgeschiedenheit Nordfinnlands zu einer Kampfmaschine ausgebildet. Denn er weiß, irgendwann wird Hanna hinausgehen in die Welt, und ihre Feinde werden sie verfolgen.
Nur zwei Bücher hat das Mädchen in seiner Hüttenkindheit gehabt. Ein Lexikon, dessen Einträge sie in- und auswendig kann, sowie ein Märchenbuch der Gebrüder Grimm. Zwei Wege, die Welt zu begreifen, die sich auch der Film zu eigen macht. Denn Wright verbindet kühnes Action-Kino mit Märchenmotiven.
Dazu gehört vor allem die Figur der bösen Stiefmutter, die die wunderbare Cate Blanchett als CIA-Bevollmächtigte mit kompromissloser Niedertracht spielt. Ein Sondereinsatzkommando verschleppt Hanna in ein Verhörzentrum in Marokko, aus dem das Mädchen fliehen kann.
Mit einer britischen Hippie-Familie reist Hanna weiter und sieht zum ersten Mal, wie eine normale Kindheit mit Mutter, Geschwistern und Freundinnen aussieht. In Berlin will sie ihren Vater treffen und wird in einem Märchenwald mit der Wahrheit über ihre Existenz konfrontiert.
Wright, der zuvor mit stilvollen Kostümfilmen („Stolz und Vorurteil“, „Abbitte“) auf sich aufmerksam gemacht hat, entwickelt ein genaues Gespür für den Puls des Genres.
Er nimmt sich die Zeit, in der Enge eines Zeltes die zarte Annäherung Hannas an die neue Freundin zu zeigen, um kaum fünf Filmminuten später eine furiose Martial-Art-Choreografie im Hamburger Container-Hafen in Szene zu setzen.
Hanna entfacht im Gegensatz zu ihren männlichen Genre-Kollegen keine Materialschlachten, sondern verlässt sich ganz auf ihre Kraft und Reaktionsschnelligkeit.
Zugleich gehört sie zu jenen mädchenhaften Heldinnen, die sich mit enormer Willensstärke den zerstörerischen Mächten der Erwachsenenwelt entgegenstemmen, so wie es kürzlich Hailee Steinfeld in „True Grit“ oder Jennifer Lawrence in „Winter’s Bone“ auf ganz anderem Genre-Terrain getan haben.
Dazu machen die unbändige visuelle Energie und der Mut, in einem Actionfilm mit Bildmetaphern zu spielen, „Wer ist Hanna?“ zur echten Perle eines Genres, das sich zu oft dem dumpfen Rausch der Effekte ergibt.