Euphorie in Cannes: Maren Ade ist schon jetzt Favoritin
Cannes (dpa) - So etwas hat es beim Filmfestival Cannes schon seit langer Zeit nicht mehr gegeben: Ein deutscher Film im Wettbewerb begeistert die internationalen Kritiker so sehr, dass sie sich vor Euphorie überschlagen.
„Die muss etwas gewinnen“, ist immer wieder zu hören. Gemeint ist Maren Ade mit ihrem Film „Toni Erdmann“: ein kluges, berührendes und zugleich sehr komisches Werk über die Konflikte zwischen Eltern und Kindern, stark besetzt mit Sandra Hüller und Peter Simonischek.
Damit gilt Ade nun als große Favoritin auf einen der Hauptpreise - und stellte am Wochenende selbst Stars wie Steven Spielberg, Ryan Gosling und Russell Crowe etwas in den Schatten.
„Toni Erdmann“ erzählt von Winfried und seiner Tochter Ines, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Winfried ist ein lebenslustiger Musiklehrer, der sein Spaß-Gebiss immer in seiner Brusttasche parat hat. Die kontrollierte Ines dagegen, Ende 30, setzt sich als Unternehmensberaterin in der Männerwelt durch.
Als Winfrieds Hund stirbt, besucht er Ines kurzentschlossen bei ihrem aktuellen Projekt in Rumänien. Es kommt zum Eklat, Winfried reist ab und kommt als Toni Erdmann verkleidet wieder zurück - schiefe Zähne, zauselige Perücke, immer etwas zu laut. Doch genau diese überdrehte Kunstfigur schafft es, Ines die Augen zu öffnen: über ihr leeres Leben, groteske Verhaltensweisen der Businesswelt und dass sie hin und wieder auch mal etwas Spaß haben sollte.
Das Thema Familie habe sie schon länger beschäftigt, sagte Ade in einem Interview der Nachrichtenagentur dpa. Vor allem „diese festgeschriebenen Rollen, die jeder in seiner Familie oft spielt“. Das Eltern-Kind-Thema sei ein dankbares und emotionales Thema. „Es bietet viel an versteckter Aggression, aber auch an Sehnsüchten.“ Außerdem sei die Eltern-Kind-Beziehung lebenslang. „Deswegen ist es auch ein schweres Thema.“
Tatsächlich kündigt sich „Toni Erdmann“ mit über zweieinhalb Stunden als sehr langes Werk an, dennoch beweist Ade (39) in ihrem dritten Spielfilm ein präzises Gespür für die Entwicklung ihrer Charaktere - und das richtige Tempo: Einerseits lässt sie sich Zeit, wenn sich ihre Hauptfiguren anschweigen, andererseits könnten ihre Gags nicht besser pointiert sein. So gelingt ihr eindrucksvoll die Balance zwischen tragischen und humorvollen Momenten. Selten zuvor musste man bei so schmerzhaften Ereignisse auf der Leinwand auch so herzhaft lachen.
Auf ganz anderen Humor setzt hingegen die überdrehte Komödie „The Nice Guys“. Ryan Gosling und Russell Crowe spielen darin Privatermittler, die in den 70er Jahren ein verschwundenes Mädchen suchen. Auch auf der Pressekonferenz zeigten die beiden, dass die Chemie zwischen ihnen stimmt - und blödelten viel herum. Außer Konkurrenz lief ebenfalls „The BFG“ von Steven Spielberg, der damit ein Kinderbuch von Roald Dahl verfilmte: Die kleine Sophie lernt einen freundlichen Riesen kennen; gemeinsam müssen sie sich gegen menschenfressende Riesen behaupten.
Während „The BFG“ wohl nicht zu Spielbergs stärksten Werken zählt, bewies Jim Jarmusch im Wettbewerb einmal mehr, warum er als einer der bedeutendsten Regisseure des US-Independentfilms gilt: Sein „Paterson“ ist ein stilles, kunstvolles Gedicht über einen jungen Busfahrer und Poeten (Adam Driver, „Star Wars“).
Überraschend ruhig und gerade dadurch kraftvoll erzählt auch Jeff Nichols sein Rassismusdrama „Loving“, das auf wahren Begebenheiten beruht. Als der Weiße Richard (Joel Edgerton) im Amerika der 1950er Jahre die Schwarze Mildred (Ruth Negga) heiratet, landen sie im Gefängnis.
Sie müssen die Südstaaten verlassen und nehmen Jahre später den Kampf wieder auf. In den Zeiten der Bürgerrechtsbewegung gehen sie bis zum Obersten Gerichtshof. Regisseur Nichols deutet dabei Themen wie Rassismus und politische Unruhen nur an, fokussiert vielmehr auf die Liebe des Paares und berührt dadurch umso mehr. Damit bringt sich „Loving“ ebenfalls für eine der Auszeichnungen ins Gespräch - doch an „Toni Erdmann“ und dem Team dahinter scheint bei der Preisvergabe am kommenden Sonntag bislang kein Weg vorbei zu führen.