Film von Maren Ade in Cannes euphorisch gefeiert
Cannes (dpa) - So etwas hat es beim Filmfestival Cannes schon seit langer Zeit nicht mehr gegeben: Ein deutscher Film im Wettbewerb begeistert die internationalen Kritiker so sehr, dass sie sich vor Euphorie überschlagen.
„Die muss etwas gewinnen“, ist am Samstag dann auch immer wieder zu hören, „ein klarer Favorit“. Die Rede ist von der jungen Regisseurin Maren Ade und ihrem Film „Toni Erdmann“: ein kluges, berührendes und zugleich sehr komisches Werk über die Konflikte zwischen Eltern und ihren Kindern, stark besetzt mit der Deutschen Sandra Hüller und dem Österreicher Peter Simonischek.
„Toni Erdmann“ erzählt von Winfried und Ines, Vater und Tochter, die sich im Laufe der Jahre entfremdet haben. Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein: Winfried ist ein lebenslustiger Musiklehrer, der sein schiefes Spaß-Gebiss immer in seiner Brusttasche parat hat. Die kontrollierte Ines dagegen, Ende 30, macht als Unternehmensberaterin Karriere und setzt sich in der Männerwelt durch.
Als Winfrieds Hund stirbt, besucht er Ines kurzentschlossen bei ihrem aktuellen Projekt in Rumänien. Es kommt zum Eklat, Winfried reist ab und kommt als „Toni Erdmann“ verkleidet wieder zurück - schiefe Zähne, zauselige Perücke, immer etwas zu laut. Doch genau diese überdrehte Kunstfigur schafft es, Ines die Augen zu öffnen: Über ihr leeres Leben, groteske Verhaltensweisen der Businesswelt und dass sie hin und wieder auch mal etwas Spaß haben sollte.
Das Thema Familie habe sie schon länger beschäftigt, sagte Ade in einem Interview der Nachrichtenagentur dpa am Samstag vor der Galapremiere am Nachmittag. Vor allem „diese festgeschriebenen Rollen, die jeder in seiner Familie oft spielt“.
„Ich habe schon beim Schreiben gemerkt, dass es ein dankbares Thema ist, dieses Eltern-Kind-Thema und dass es auch relativ emotional ist. Es bietet viel an versteckter Aggression, aber auch an Sehnsüchten.“ Außerdem sei die Eltern-Kind-Beziehung lebenslang. „Deswegen ist es auch ein schweres Thema.“
Tatsächlich kündigt sich „Toni Erdmann“ mit über zweieinhalb Stunden als sehr langes Werk an, dennoch beweist Ade (39) in ihrem dritten Spielfilm ein präzises Gespür für die Entwicklung ihrer Charaktere und deren Annäherung - und das richtige Tempo: Einerseits lässt sie sich Zeit, wenn sich ihre Hauptfiguren anschweigen, andererseits könnten ihre Gags nicht besser pointiert sein. So gelingt ihr eindrucksvoll die Balance zwischen tragischen Momenten und humorvollen Elementen. Selten zuvor musste man bei so schmerzhaften Ereignisse auf der Leinwand auch so herzhaft lachen.
Wie schon in ihren Vorgängerfilmen wie „Alle Anderen“ lässt Ade auch hier ihre Hauptdarsteller brillieren. Egal, ob Hüller voller Inbrunst Whitney Houstons „The Greatest Love of All“ singt oder Simonischek in seiner Doppelrolle die Facetten seines Könnens zeigt (und in einem haarigen Kostüm als bulgarisches Kukeri-Wesen die Zuschauer überrascht) - an „Toni Erdmann“ und dem Team dahinter scheint bei der Preisvergabe am kommenden Sonntag kein Weg vorbei zu führen.