Filmfest Venedig: Kein klarer Favorit
Venedig (dpa) - Manchmal wäre es sicher spannend, bei den Diskussionen einer Jury dabei zu sein. Dann könnte man erfahren, wer was für auszeichnungswürdig erachtet und wie hitzig solche Debatten ablaufen.
Gerade in diesem Jahr würde sich das beim Filmfestival Venedig lohnen. Schließlich scheint die neunköpfige Jury um „Gravity“-Regisseur Alfonso Cuarón nicht nur mit höchst unterschiedlichen Künstlern und Charakteren besetzt. Auch der Wettbewerb bot nicht den einen klaren Favoriten, sondern gleich mehrere Filme, die eine der Auszeichnungen verdient hätten.
Größere Chancen können sich dabei sicher die politisch und gesellschaftlich engagierten Werke ausrechnen — gerade wenn sie Bezüge zu aktuellen Missständen aufzeigen. „Rabin, the Last Day“ etwa fokussiert auf die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Izchak Rabin durch einen religiösen Fanatiker.
20 Jahre ist das bereits her, und doch gelingt es Regisseur Amos Gitai in einem Mix aus dokumentarischen und nachgestellten Sequenzen, die Auswirkungen zu verdeutlichen, die dieses Attentat bis heute hat. Schließlich setzte sich Rabin vehement für den Frieden in der Region ein; ein Prozess, der nach seinem Tod noch schwieriger zu verwirklichen war und ist.
Der Türke Emin Alper hingegen legt mit „Abluka“ so etwas wie eine düstere Zukunftsversion aus seiner Heimat vor: Mit einem enormen Polizeiaufgebot kontrolliert der Staat in dem Film seine Bürger und spioniert sie aus. Widerstand gegen diese Übermacht führt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen — Alper zeigt ein von Gewalt erschüttertes Istanbul, in dem die Menschen unter teils sehr ärmlichen Verhältnissen leben.
Ein großer Favorit auf den Goldenen Löwen ist aber auch der Animationsfilm „Anomalisa“, der klar aus der übrigen Löwen-Konkurrenz hervorsticht. Immerhin ist es in mehrfacher Hinsicht ein Kunstwerk, das Charlie Kaufman und Duke Johnson da um einen einsamen Mann auf der Sinnsuche vorlegen: Gedreht in Stop-Motion-Technik, für die die Figuren in jeder Einstellung neu aufgestellt werden, heben die Regisseure bewusst die Künstlichkeit ihrer Puppen hervor. Dennoch kreiert „Anomalisa“ mit seinen präzisen Beobachtungen des Alltags und der menschlichen Gefühle mehr Wärme und Bezugspunkte als manch anderes Werk mit realen Darstellern.
Weitere Höhepunkte waren Alexander Sokurows Essay „Francofonia“ um das von Nazis besetzte Paris sowie das Debüt „From Afar“ aus Venezuela über eine emotional und sexuell aufgeladene Beziehung zwischen einem Teenager und einem älteren Mann. Überhaupt könnte dieser Film für den besten Darsteller geehrt werden, ebenso wie der Junge Abraham Attah aus dem Kindersoldatendrama „Beasts of No Nation“ oder der Brite Ralph Fiennes als überdrehter Musikproduzent in „A Bigger Splash“.
In „Heart of a Dog“ reflektiert Lou Reeds Witwe Laurie Anderson auf sehr persönliche Weise über das Sterben und Abschiednehmen. Das stellt sie spielerisch zusammen als assoziativen und poetischen Bilderrausch, der von ihren Kindheitserinnerungen, über Zitate von Philosophen bis hin zu existenziellen Gedanken über das Leben und den Tod treibt. Während einige Zuschauer damit wenig anfangen konnten, rührte „Heart of a Dog“ andere zu Tränen - und hätte einen größeren Preis klar verdient.