RAF — die Vorgeschichte

Andres Veiels feiert heute mit „Wer wenn nicht wir“ bei der Berlinale sein Spielfilm-Debüt.

Berlin. Mit „Wer wenn nicht wir“ gibt der Dokumentarfilmer Andres Veiel (51) sein Spielfilm-Debüt im Berlinale-Rennen um den Goldenen Bären. Veiel erzählt von der obsessiven Liebe zwischen der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin und dem Schriftsteller Bernward Vesper.

Herr Veiel, Sie haben als 15-Jähriger für Ihre Schülerzeitung den Prozess gegen Gudrun Ensslin und Andreas Baader verfolgt.

Veiel: Ja, das war für mich sehr wichtig — weil ich damals noch in der Jungen Union war, aber Zweifel hatte. Die Prozessbesuche hatten nicht den Zweck, mich mit der RAF zu solidarisieren. Entscheidend waren dann aber die Reaktionen auf meine Prozessbesuche.

Welche waren das?

Veiel: Einer der wichtigen CDU-Funktionäre der Stadt nahm mich irgendwann beiseite und sagte, dass er mir empfehlen würde, mein Engagement für die Hausbesetzungen und die Prozessbeobachtung etwas zurückzufahren. Das war als freundliche Warnung gemeint: Wenn du noch was werden willst in diesem Staat, dann lass die Finger davon! Das war für mich der Punkt, an dem ich dachte, da stimmt doch etwas nicht in diesem Staat.

Wie haben Sie die Angeklagten erlebt?

Veiel: Da gibt es ganz viel Projektion im Nachhinein, weil sich viel überlagert hat mit späteren Bildern. Ich habe die Unbedingtheit bewundert, für eine Sache einzutreten. Aber ich wusste, dass ich viel zu ängstlich bin und zu viele Skrupel habe und im Kern auch nicht wirklich davon überzeugt bin — trotzdem war da eine Aura von Bewunderung. Das hat angehalten bis ich ungefähr 18 war, bis die Urlaubermaschine nach Mogadischu entführt wurde.

Wie nah an der Realität ist Ihr Film?

Veiel: Die Frage ist immer, was ist die Wirklichkeit? Wenn Gudrun Ensslin noch leben würde, und man würde sie befragen — dann würde sie genauso rekonstruieren und bestimmte Dinge neu deuten. Wirklichkeit setzt sich immer zusammen aus einer Rekonstruktion von Menschen, die sich erinnern. Und Erinnern ist Fiktion. Ich entscheide mich aus den vielen Materialien für eine Lesart. Ich kann für mich sagen, dass ich mich viele Jahre mit dem Thema beschäftigt habe, aber ich würde mir nie anmaßen zu sagen, das sei jetzt die letzte und einzig gültige Lesart.

Mit welchen Zeitzeugen haben Sie gesprochen?

Veiel: Mit der Schwester von Bernward Vesper, mit einer Schwester von Gudrun Ensslin, mit Freunden, Klassenkameraden und Wegbegleitern sowohl von Bernward Vesper als auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Insgesamt waren es 40 sehr unterschiedliche Zeitzeugen. Oft sind sie nicht bereit gewesen, vor der Kamera zu sprechen. Das war letztendlich auch ein Grund, einen Spielfilm zu machen.

Wenn Sie Ihren Film einem Genre zuordnen wollten, welches wäre das?

Veiel: Es ist ein politisches Liebesdrama. Man kann die Liebe ja von Politik nicht trennen. Wenn man so will, ist das Private politisch. Ich wollte einen Film machen, der an die Wurzeln geht — der das betrachtet, was die vielen anderen RAF-Filme nicht erzählt haben: die frühen Jahre.

Es heißt, unsere Gesellschaft sei gerade dabei, sich zu repolitisieren. Sehen Sie das auch so?

Veiel: Es sind heute konkrete Projekte, die bei den Menschen Widerstand hervorrufen — wie Stuttgart 21, die Castor-Transporte oder die Berliner Wasserverträge und Einflugschneisen für den neuen Flughafen bis zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Darunter gibt es auch ein generelles politisches Unbehagen. Das ist heute aber viel schwerer zu formulieren als in den 60er Jahren, weil die Welt viel komplexer geworden ist. Doch es gibt viele Fragen, die jeden Einzelnen vor die Situation stellen: Finde ich mich damit ab oder sage ich: Hier ist jetzt Schluss. Es geht auch um die Frage: In welchem System leben wir, das so anfällig ist für Krisen?

Was kann man tun?

Veiel: Fragen stellen. Ich sehe mich als Diagnostiker, der mit einem historischen Stoff die Gegenwart befragt. In „Wer wenn nicht wir“ kann man in vielen Punkten Antworten für die Gegenwart finden.