Geschichtliche „Wahrheit“ Faktensucher gegen Geschichtenerzähler

DÜSSELDORF · Verfälscht ein Roman über eine geschichtliche Epoche die „Wahrheit“? Oder ist er ein Zugewinn zum Sachbuch? Das Beispiel „Deutscher Herbst“:

 Butz Peters (links) im Gespräch mit Stephan Meier

Butz Peters (links) im Gespräch mit Stephan Meier

Foto: Anne Orthen

Wer etwas über Geschichte erfahren will, schaut sich eine Dokumentation an, geht in ein Museum oder liest ein Sachbuch. Oder, und hier wird es spannend, er oder sie greift zu einem Roman über die entsprechende Zeit. Spannend nicht nur, weil ein Roman kurzweiliger geschrieben ist als ein trockenes Sachbuch.

Spannend auch, weil es da ein Problem geben kann: Verfälscht der Romanautor mit seiner fiktionalen Herangehensweise die Geschichte, führt er gar den Leser oder die Leserin auf eine falsche Fährte? Und vermittelt letztlich ein „falsches“ Geschichtsbild, das dann bei einem Großteil der Öffentlichkeit als authentische Wiedergabe des Geschehens, als „die Wahrheit“, im Kopf bleibt?

Das „Haus der Geschichte NRW“ am Düsseldorfer Rheinufer hat dazu zwei Autoren zur Diskussion aufs Podium geholt, die diesen Konflikt besonders beeindruckend verkörpern. Und die sich beide mit einem Thema befassen, das die Republik vor 45 Jahren in Atem hielt: Die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF-Terroristen, die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut, die Todesnacht der inhaftierten Terroristen, die sich in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim selbst töteten, dann die Ermordung Schleyers. Was als „Deutscher Herbst“ in die Geschichtsbücher einging, hat Stephan Meier in seinem Politthriller „44 Tage – und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war“ verarbeitet. Das Besondere: Er ist der Sohn des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten Richard Meier und hat die damalige Zeit als Jugendlicher in dem, wie er sagt, „zur Festung umgebauten Kölner Haus der Familie“ aus großer persönlicher Nähe erlebt.

Butz Peters ist Anwalt, früherer Moderator der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ und hat mehrere Sachbücher über die RAF verfasst. Unter anderem „1977. RAF gegen Bundesrepublik“. Seine Herangehensweise an das Thema: Akten lesen, auch Gerichtsakten über damalige Prozesse, mit Zeitzeugen sprechen. Um auf diese Weise ein möglichst authentisches Geschichtsbild zu vermitteln.

Ganz anders der Ansatz von Meier, den dieser selbst so umschreibt: „Das Schöne für einen Romanautor ist: Sie können machen, was Sie wollen.“ Und doch ist er in großer Nähe zu den Fakten, wenn er die Geschichte über diese 44 Tage erzählt. So zeigt er die Perspektive des FDP-Politikers Gerhart Baum, damals Staatssekretär im Innenministerium. Im Roman heißt er „Buche“, nicht Baum. Und auch der Ort, an dem Buche von der Schleyer-Entführung erfahren hat – nach einem Theaterbesuch – ist frei erfunden. Andere, wohl die meisten Darstellungen, aber sind nah am tatsächlichen Geschehen, wenn auch ausgeschmückt.

Der Romancier provoziert den Sachbuchautor im Streitgespräch: „Es reicht, wenn sich sagen lässt, dass es so hätte sein können.“ Peters geht da nicht mit: „Ich schreibe Dinge, von denen ich sicher bin, dass sie so waren. Und wenn ich es nicht weiß, dann stelle ich die Widersprüchlichkeiten dar.“ Würden sich aber teils authentische, teils falsche oder frei erfundene Darstellungen vermischen, dann verschwimme doch alles. Fakten und Fiktion – alles durcheinander.

Wenn er, der Sachbuchautor, den Romancier auf sachliche Fehler in dessen Geschichte hinweist, dann sei das nicht despektierlich gemeint, versichert Peters. Und es stimme ja, der Publikumsgeschmack gehe nun mal in Richtung des Romans, das erkenne er neidlos an. Guckt aber dabei, als fühle er ganz anders.

Die von Peters geäußerten Zweifel an den Fakten in seinem Roman kontert Meier so: „Wenn Sie Romanautor sind, dann erfassen Sie ein Gefühl, und dieses Gefühl ist genauso verwurzelt in der Zeit. Es zeigt, welche Stimmung die RAF damals in der Gesellschaft erzeugt hat, was sie angerichtet hat.“

„Ja, es gibt aber auch viele Menschen, die an den Fakten interessiert sind“, kontert Peters. Moderatorin Stephanie Rohde fragt ihn, ob es neben möglichen sachlichen Fehlern denn auch eine Stelle in Meiers Buch gebe, die für ihn als Experten neu war. Er sei da über die Darstellung gestolpert, ob es vielleicht wirklich so war, dass der Staat damals den Suizid der Häftlinge in Stuttgart Stammheim per akustischer Überwachung mitbekommen hat. Was ja hieße, der Staat hätte die Suizide eventuell verhindern können. Romanautor Meier, der darauf verweist, dass die Schweigepflicht, die seinen Vater traf, auch ihn verpflichtet, sagt dazu: „Ich behaupte das nicht als historische Tatsache, sondern so schreibe ich es im Roman. Er halte es aber für „mehr als wahrscheinlich, dass es so gewesen ist“.

Ein Punkt, an dem das Unbehagen von Sachbuchautor Utz Peters über die Vermischung von Fakten und Fiktion greifbar wird. Die Ratlosigkeit, die das „Es könnte so gewesen sein oder auch nicht“ hinterlässt.

„Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers“

Möglicherweise werden heute noch verschlossene Akten diese Frage eines Tages klären. Ansonsten aber gilt mit Blick auf die Wahrheit die Erkenntnis, dass wir alle uns sehr unterschiedlich erinnern. „Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers“ gibt Gabriele Uelsberg ein Bonmot wieder. Sie ist Präsidiumsmitglied in der Stiftung „Haus der Geschichte NRW“ und bricht in ihrem Nachwort zu der Diskussion eine Lanze für die Literatur: „Auch die Ilias von Homer ist Literatur, eine Kunstform, die Geschichte erzählt. Kein Mensch würde auf die Idee kommen zu sagen, dass das, was da drin steht, genau so passiert ist.“ Kunst überziehe Dinge, um sie vielleicht deutlicher zu machen. Romane seien Kunstformen, hätten die Fähigkeit, Emotionen zu wecken. Und sie hätten nicht den Anspruch  eines Geschichsbuches. „Der Roman kann akzentuieren, er kann Passagen der Realität umschiffen, die ja oft auch sehr langweilig ist.“