Kultur Simon Rattles fulminantes Finale

Ende einer musikalischen Ära: Auf ihrer letzten gemeinsamen Tournee begeistern die Berliner Philharmoniker in Köln.

Foto: Monika Rittershaus

Köln. Der Anfang vom Ende kommt lässig daher. Die Berliner Philharmoniker swingen bei Jörg Widmanns „Tanz auf dem Vulkan“ alleine los — wie eine Big Band. Erst nach ein paar Takten schlendert Simon Rattle mit den Händen in den Hosentasche auf die Bühne. Und kurz bevor der etwas belanglose Acht-Minuten-Reißer endet, lässt der Chef sein Orchester wieder alleine. Bald ist er ganz weg. In zwei Wochen endet in Berlin die Ära Rattle — jetzt machte man auf einer letzten Europatournee Station in der Kölner Philharmonie.

Nach Widmann erklang Witold Lutoslawskis 1983 uraufgeführte 3. Symphonie, die Sir Simon als junger Dirigent im Radio hörte und die ihn sofort begeisterte. Nach der Pause krönte Brahms’ 1. Sinfonie einen großartigen Abend, der als musikalische Quintessenz der 16-jährigen Ehe gelten kann. Viel Modernes hat man gespielt und die Meisterwerke aus Klassik und Romantik rauf und runter. Spieltechnische Probleme scheint es bei den Philharmonikern mittlerweile nicht mehr zu geben, egal ob sie ein intellektuell so anspruchsvolles Schlachtross wie Brahms c-moll-Erstling oder die virtuos vertrackten Rhythmen und Klangballungen eines Lutoslawskis meistern.

Die Frage an diesem heißen Abend in Köln ist eigentlich nur: Hauen diese Ausnahmekönner kurz vor dem Ende ihrer letzten Reise mit Rattle nach Stationen in den Musikhochburgen London, Wien und Amsterdam noch einmal alles raus? Über die Antwort gab es im restlos ausverkauften Saal keine zwei Meinungen: Ja, sie hauten alles raus. Das Publikum dankte am Ende mit stehenden Ovationen. Rattle ging durch sein Orchester, am liebsten hätte er jedem einzelnen Musiker die Hände geschüttelt.

In den Berliner Zeitungen war zuletzt zu lesen, die Beziehung zwischen Chef und Orchester sei erkaltet. Davon war in Köln nichts zu spüren.

Als der Brite 2002 in der Hauptstadt anfing, gab es in den Feuilletons nach den ersten Konzerten bissig-besorgte Fragen: Ist Berlin noch Berlin? titelte etwa der 2017 verstorbene Joachim Kaiser. Zu schlank, zu wenig Tiefgang, ja zu wenig „deutsch“ im Sinne der spätromantischen Orchestertradition klangen da manchem Kritiker die Berliner. Das hat sich erledigt. Tatsächlich haben Sir Simon und die Philharmoniker soundmäßig eine spannende Entwicklung genommen. Anfangs wirkte noch sehr der am Ende immer vergeistigtere Vorgänger Claudio Abbado mit seinem lichten, transparenten Klangideal nach. Jetzt, am Ende ähnelt der „Berliner“ Brahms seligsten Schönklang-Zeiten unter Herbert von Karajan, mit großen Legato-Bögen auf einem luxuriösen Streicherteppich, der wieder ganz dicht gewebt ist. Allerdings mischt Rattle dem Ganzen deutlich mehr Schärfe, Dynamik, ja Rasanz bei als Karajan.

Und sonst, jenseits der reinen Musik? Haben Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker die Klassik viel mehr (und besser) vermarktet und sie näher zu den Menschen gebracht. Insbesondere junge Leute wurden mit neuen Formaten (Late Night-Konzerte, Digital Concert Hall) und Projekten wie dem wunderbaren Tanz-Film „Rhythm is It“ angefixt.

In der kommenden Saison nun sind die Berliner cheflos und spielen nur unter Gastdirigenten. Einer von ihnen wird Rattle sein. Und einer Kirill Petrenko, der 2019 sein Amt als Chefdirigent antritt. Es gibt ebenso große wie berechtigte Hoffnungen weit über Berlin hinaus, dass mit dem Russen eine neue große Ära beginnt. Auch wenn sie wohl nicht mehr 16 Jahre dauern wird.