Meinung Die Feilscherei schadet dem Amt des Bundespräsidenten
Das Bedauern von Bundeskanzlerin Angela Merkel über den Verzicht Joachim Gaucks auf eine zweite Amtszeit sagt weniger etwas über ihre Wertschätzung für den amtierenden Bundespräsidenten, sondern vielmehr etwas über ihr grundsätzliches Verständnis des Amtes.
Sie unterliegt — wie mehrere Bundeskanzler vor ihr — dem Missverständnis, Staatsoberhaupt sei in der Bundesrepublik eine Art zeremonielles Amt, der Amtsinhaber so etwas wie eine personifizierte Staats-Dekoration, auf die es aber eigentlich nicht ankommt, und die sich am besten auf das störungsfreie Abnicken von Gesetzen der Regierung beschränkt.
Nach diesen Kriterien wurden die von ihr verantworteten Gauck-Vorgänger Horst Köhler (2004—2010) und Christian Wulff (2010—2012) ausgewählt; beide scheiterten auf ihre jeweils persönliche Weise und waren denkbar ungeeignet, an die Maßstäbe heranzureichen, die der im vergangenen Jahr verstorbene Richard von Weizsäcker in seinen zehn Amtsjahren von 1984 bis 1994 gesetzt hat.
Das gelang schon seinem Nachfolger Roman Herzog (1994—1999) nur leidlich, und Johannes Raus Amtszeit (1999—2004) litt ein wenig darunter, dass er alle bundespräsidialen Reden bereits als Ministerpräsident gehalten hatte, weshalb das Schloss Bellevue in seinen Jahren immer ein bisschen wie der Ruhesitz eines verdienten Landesvaters wirkte.
Angela Merkel und mit ihr viele Politiker der großen Koalition bedauern den Verzicht Gaucks nicht, weil sie Gauck so sehr schätzen (wäre es 2012 nach Merkel gegangen, wäre Gauck nie ins Amt gekommen), sondern weil sie die Wahl eines Staatsoberhaupts im Jahr einer Bundestagswahl als störend empfinden. Und genau so sieht die Kandidatinnen- und Kandidaten-Suche nun auch aus: Statt nach einer Frau oder einem Mann, die oder der das Amt ausfüllen kann, suchen die Parteien bloß nach irgendwem. Nach einem Kompromiss, auf den sie sich einigen können — und verprellen damit die Bevölkerung, die wieder einmal einen Eindruck davon bekommt, wie „redlich“ es im Berliner Politikbetrieb zugeht. Vielen Beteiligten mangelt es sehr offenkundig an dem angemessenen Gespür dafür, wie wichtig es vor allem in ungewissen Zeiten ist, um das Amt des Staatsoberhaupts nicht zu feilschen, als ginge es um die Formulierung eines Halbsatzes hinter dem Komma in einer drittrangigen Gesetzesvorlage.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 noch ausdrücklich festgestellt, dass die Autorität und die Würde des Amtes des Bundespräsidenten gerade auch darin zum Ausdruck kommen, dass es auf vor allem geistig-moralische Wirkung angelegt ist. Diesen Anspruch hat Joachim Gauck erfüllt. Er hat dies auf eine persönliche Weise getan, an der sich mancher rieb (und bis zu seinem Ausscheiden weiter reiben wird), aber er hat es ausgleichend und integrierend getan. Joachim Gauck repräsentiert die Bundesrepublik Deutschland nicht als unpolitischer Präsident, ganz im Gegenteil, und er macht es der Politik keineswegs immer leicht. Dies entspricht der Unabhängigkeit seines Amts. Diese Unabhängigkeit ist kein Betriebsunfall, wie Angela Merkel vielleicht denkt, sondern von der Verfassung gewollt. Und von der Bevölkerung auch.
Deshalb wäre es auch richtig zu prüfen, ob die historischen Argumente wirklich noch Gültigkeit haben, den Bundespräsidenten nicht direkt von Bürgern, sondern von der Bundesversammlung wählen zu lassen. Wenn den Parteien dazu schon die Bereitschaft fehlt, dann sollten sie bei der Kandidaten-Auswahl wenigstens einem klaren Angebot den Vorzug vor Konsens-Kandidaten geben.
Wenn CDU und CSU ernsthaft der Meinung sind, Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier wäre ein schlechter Bundespräsident, dann sollte sie Argumente dafür vorbringen — dass er SPD-Mitglied ist, und dass das vor der Bundestagswahl für die Union schlecht aussieht, ist keins. Wenn die SPD ihrerseits Bundestagspräsident Norbert Lammert (der einer der würdigsten Vertreter der Rechte des Parlaments ist) oder Wolfgang Schäuble (bezweifelt jemand ernsthaft seine Verdienste um dieses Land?) für ungeeignet hält, dann soll sie es begründen — aber nicht mit ihren Parteibüchern.
Wenn die CDU/CSU überzeugt ist, dass Gerda Hasselfeldt die richtige Kandidatin ist, dann möge sie mit ihr Antreten — aber nicht, weil sie profillos genug ist, um durchzukommen. Wenn die SPD auf Rot-Rot-Grün setzen will, dann soll sie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz aufstellen — aber nicht, weil ihr gerade nichts Besseres einfällt oder sie keinen findet, der noch lauter redet.
Die Politik hätte jetzt die Chance zu demonstrieren, dass sie die Stimmung und die Bedürfnisse im Land verstanden hat. Wenn sie sie verstreichen lässt, wird sie bei der Bundestagswahl dafür die Quittung bekommen. Das Land braucht einen neuen Präsidenten, keinen neuen Koalitions-Kompromiss.