Bundespräsident Steinmeier in Duisburg-Marxloh
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier macht auf seiner zweitägigen NRW-Tour Halt in Duisburg-Marxloh. Dort, wo „noch Arbeit“ bleibt.
Duisburg. Als es weit nach 9.45 Uhr ist und der Bundespräsident trotz Ankündigung noch fern, schwinden die Argumente. Wie sollen Grundschüler Pünktlichkeit und Disziplin lernen, wenn der „Chef von Deutschland“ sich an keine Zeit hält? Regina Balthaus-Küper bleibt ruhig. Sie ist jetzt von lauter „Chefs“ umgeben, das ist der Begriff ihrer Wahl, wenn die Schulleiterin den Kindern der katholischen Grundschule in der Henriettenstraße von Duisburg-Marxloh die Gäste vorstellt, die sich in ein enges, buntes Treppenhaus drängen. Umgeben von Kameras, Journalisten und Sicherheitskräften. Oberbürgermeister Sören Link (SPD) ist der „Chef von Duisburg“. Der „zweite Chef von NRW“ ist Joachim Stamp (FDP). Und dann kommt auch der „Chef von Deutschland“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Gattin Elke Büdenbender.
Die Kinder singen ein Lied („Guten Morgen, dzien dobry, buna dimineata, günaydin“), Steinmeier singt ab Strophe drei gleich mit, Balthaus-Küper spielt Gitarre und ist mit dem letzten Klang beseelt: „Das habt ihr toll gemacht“, ruft sie ins Treppenhaus. Mehr als 90 Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund, die meisten sind Bulgaren oder Rumänen. Sie leben hier in Marxloh, 16 000 Einwohner, angeblich rund 4000 davon Rumänen und Bulgaren. Problembezirk. Problembezirk? Nicht für Balthaus-Küper. Sie sieht „ganz viele Chancen“ für „dankbare Kinder“. Was fehlt, seien „Übersetzer“ für Eltern, noch mehr als für Kinder.
Und eigentlich ist die Schule mit den trommelnden Vladimir (11) und Yunus (9) im Nieselregen draußen und dem neugierigen Nachwuchs innerhalb des roten Backsteingebäudes nicht weniger als ein Beispiel, wie viel Integrationsarbeit schaffen kann. Deshalb ist Steinmeier, dessen SPD-Parteibuch als Präsident nur ruht, gekommen. Er selbst ist Nordrhein-Westfale, in Detmold geboren, in Brakelsiek aufgewachsen. Mutter Vertriebene aus Breslau, Vater Tischler — eine Aufsteigerbiografie durch Bildung. Er ist richtig hier, findet der Bundespräsident.
Dabei hätte der OB mit der goldenen Amtskette auch gerne andere Ecken gezeigt. Schönere. Marxloh gilt als Schandfleck in NRW, Link ist seit fast sechs Jahren im Amt, er kann es nicht mehr hören. „Duisburg besteht nicht nur aus Problemimmobilien“, hatte er vor Tagen geklagt, weil Steinmeier gleich nach der Schule nach Protokoll an einer sogenannten Schrottimmobilie Halt macht und sich von Polizeipräsidentin Elke Bartels und Daniela Lesmeister von der „Taskforce Problemimmobilie“ erklären lässt, was Duisburg auf der Seele klebt.
Es regnet, die Tür des vierstöckigen Hauses ist vernagelt. Vor mehr als einem Jahr hat die Stadt das Haus räumen lassen. Brandschutz. Aber das Problem geht tiefer: Zu viele Bewohner lebten hier in katastrophaler Umgebung. Immer wieder vermitteln in dieser Stadt Vermieter Arbeits- und Wohnplatz, kassieren dann staatliche Hilfen, Verwahrlosung inklusive. 53 Häuser stehen noch auf der Taskforce-Liste. Von 32 begangenen sind 27 sofort geschlossen worden. Wenn der Eigentümer wieder Miete einnehmen will, muss er sanieren. Steinmeier lässt sich Fotos aus dem Innern zeigen. Rein darf er nicht, der Eigentümer erlaubt es nicht. Am liebsten würde die Stadt die Häuser in städtischen Besitz zurückführen. Einmal, sagt Link, habe das funktioniert. „Einmal?“, fragt Steinmeier. Es kommt ihm bedauerlich wenig vor.
Viele hier werfen dem Gast Katastrophen-Tourismus vor. Erst 2015 war Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hier. Marxloh ist auch durch diese Besuche stigmatisiert. Die Landesregierung schönt diesen Ausflug verbal an einen Ort, „wo noch Arbeit vor uns liegt“. Aus den Fenstern blicken die Bewohner, oft mit leerem Blick. Aber auf der Straße zeigt sich auch eine andere Seite: der Stolz des Viertels. Während eine Frau über den „Dreck auf den Straßen“ jammert, sagt der Marxloher Wolfgang Köhler im Umfeld einer tatsächlich sauberen Straße, die Marxlohs berühmte Brautmodenmeile ist: „Das ist nur der Dreck in ihrem Kopf.“
Die einen schimpfen: Wieder sei eigens gesäubert worden für den Gast, der Eindruck also verfälscht. Andere loben: „Als Merkel hier war, hat sie sich kaum gezeigt. Ich finde es gut, dass Steinmeier hier auch offen durch die Straßen läuft. Die Bewohner selbst haben hier viel gereinigt“, sagt Filoreta Saiti, eine 24 Jahre alte Deutsch-Albanerin, die sich sozial engagiert. Sie ist Erzieherin, will hier bleiben. Marxloh blühe auf, wächst. Aber: Über 40 Prozent erhalten hier Transferleistungen, 67 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. „92 Nationalitäten“, sagt Harald Giering, der in den Sechzigern aus Hamborn nach Marxloh kam. Und jetzt das Staatsoberhaupt knipst, das an ihm vorbei flaniert. „Es gibt hier sogar wieder Zuzug“, sagt Steinmeier später, als er dem Stadtteil ein Kompliment machen will: „Wenn sie aus Berlin kommen, dann erkennen sie hier keine echte negative Besonderheit.“
Der Sicherheitsdienst sieht das anders: Noch einmal, sagt der Mann in Schwarz, als Steinmeier sich in dem glamourösen Brautmodengeschäft des Türken Tercan Küccük über den Einzelhandel unterrichten lässt, wird Steinmeier nicht im Pulk laufen. „Zu gefährlich.“ Vereinzelt demonstrieren Kurden gegen deutsche Waffenlieferungen an die Türkei, einer wird überwältigt von der Polizei, die das Viertel für Fahrzeuge abgesperrt hat.
Steinmeier kehrt für ein Statement zurück in die Schule, quer durch Marxloh. Die Probleme, sagt er dort, schlagen mit Wucht auf der kommunalen Ebene auf. Dort brauche es Hilfe vom Land, vom Bund. Durch den Lautsprecher sagt die Schulleiterin, die Schule ende heute etwas später, weil der Besuch noch da sei. Ob sie Steinmeier diese erneute Undiszipliniertheit auch noch durchgehen lassen?