Die Grünen und die Sinnfrage
Ökopartei steht vor ihrer Zerreißprobe
Erinnern Sie sich noch an die lachende rote Sonne auf gelbem Grund — „Atomkraft? Nein danke!“? Jeder, der mit den Grünen sympathisierte, trug diesen Sticker mit sich herum. Heute müsste diese Sonne stärker strahlen als so manches AKW.
Immerhin ist Deutschland die erste Industrienation der Welt, die ab 2022 den Ausstieg aus der Kernkraft wagen will. Ein Fest also für die Grünen, die letztlich ein Produkt der Anti-Atomkraft-Bewegung sind? Weit gefehlt.
Die Partei steht vor ihrer Zerreißprobe. Mehr als 30 Jahre pflegte sie ihr grünes Image. Nach der Katastrophe von Fukushima bescherte ihr das einen traumhaften Wählerzulauf.
In den Geschichtsbüchern aber werden es nicht die Grünen sein, denen das Kapitel „Ökorevolution“ gewidmet ist, sondern jene schwarz-gelbe Regierung, die den Energiekonzernen noch vor gar nicht so langer Zeit ein großzügiges Laufzeitplus für ihre Atomkraftwerke genehmigte.
Ein Dilemma für die Grünen. Und so suchen sie orientierungs- und planlos nach ihrem verlorenen Markenkern. Es mag der grünen Seele zwar guttun, wenn die Parteilinke nun wortgewaltig eine Ablehnung des Atomausstiegs fordert.
Doch damit werden vor allem die neuen Wähler vergrault, die den Grünen wegen ihres Öko-Pragmatismus jüngst ihre Stimme gaben. Die Partei muss aufpassen, dass sie sich auf ihrem Weg zur führenden politischen Kraft im Land nicht selbst aus der Bahn wirft.
Der Parteitag nächste Woche wäre eine gute Gelegenheit, die künftige originäre grüne Politik abzustecken. Dazu müssten sich Realos und Fundis aber auf einen pragmatischen Umgang mit der Energiewende verständigen.
Wie etwa steht die Partei zum Ausbau der Windenergie, wenn dafür neue Hochspannungstrassen benötigt werden? Oder wie lässt sich die Grundlast sichern, wenn im Gegenzug zur Abschaltung der AKW neue Kohle- und Gaskraftwerke gebaut werden müssen?
Die Grünen sollten darauf Antworten geben, sonst könnte die Zeit der hohen zweistelligen Wahlergebnisse schnell wieder vorbei sein — und die Option Schwarz-Grün verbaut. Winfried Kretschmann brachte es kürzlich trefflich auf den Punkt: „Es genügt nicht, schlechte Entwicklungen zu verhindern, man muss auch führen wollen, wenn man ein Land gestalten will.“