Meinung Jahresrückblick - Ein Jahr wie eine Karikatur von Politik
Meinung | Berlin · Die große Koalition hat es auch 2019 nicht geschafft, Akzente durch politische Entscheidungen zu setzen. Stattdessen beherrschten Führungskrisen und Rücktritte die Schlagzeilen.
Im politischen Jahresrückblick für Deutschland dominieren: Rücktritte. Intrigen. Führungskrisen. Nahles, AKK, Merkel. Aber nicht: Beschlüsse. Gesetze. Weichenstellungen. Es war wieder ein vertanes Jahr.
Nach Problemen zwischen CDU und CSU sowie die zu klärende Besetzung des Parteivorsitzes bei den Christdemokraten im Jahr 2018 hatte die SPD 2019 ein starkes Selbstfindungsproblem, was nicht nur zum Rücktritt der Vorsitzenden Andrea Nahles führte, sondern auch zu einer sechs Monate (!) dauernden Suchphase für ihre Nachfolge. Gefunden wurden zwei Amateure, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Und die CDU versuchte 2019 zu klären, ob die neue Parteivorsitzende AKK auch die richtige Kanzlerkandidatin wäre. Ergebnis: Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Grundrente verwässert, Zaudern in der Außenpolitik, Bibbern beim Handel
Das ist keine Karikatur deutscher Politik, das ist die Realität. Selbstbeschäftigung, Nabelschau, Machtkämpfe. Wer demgegenüber nach Inhalten schaut, findet wenig. Die Grundrente: verwässert und trotzdem nicht verabschiedet. Obwohl die Altersarmut zunimmt. Das Klimaschutzpaket: so schwach, dass es nachverhandelt werden musste. Und immer noch nicht taugt. Die Außenpolitik: zaudern, zögern und zagen gegenüber den Diktaturen in China, Russland und der Türkei. Keine Strategie. Europa: kein Schulterschluss mit Emmanuel Macron und kein Schimmer, wie das Verhältnis zu Großbritannien nach dem Brexit werden soll. Handel: bibbern vor Trumps Sanktionspolitik. Aber kaum eigene Handlungsmöglichkeiten. Technologie: Die Schlüsselbranche Auto fällt zurück, die Schlüsselbranchen KI und IT holen nicht auf.
Und so weiter. Man kann die Liste der Versäumnisse des Jahres 2019 ziemlich lang machen. Gibt es denn gar keine Lichtblicke? Doch. Das Bewusstsein über das, was eigentlich notwendig wäre, ist 2019 auf allen Ebenen gewachsen. Es gibt kein Erkenntnisproblem mehr, in keinem Bereich. Und wo es das gab, haben Bürgerproteste wie Fridays For Future nachgeholfen. Es gibt nur ein Problem der Ängstlichkeit, der mangelnden Konzentration auf das Wesentliche, der politischen Zersplitterung, des Einknickens vor Lobbyisten und manchmal auch der Gedankenfaulheit. 2019 ist die Kluft zwischen den sachlichen Notwendigkeiten hier und den Fähigkeiten der politischen Führung da tiefer geworden.
So gesehen, kann das Jahr 2020 eigentlich nur besser werden. Es stehen außer in Hamburg keine Landtagswahlen an, wahrscheinlich auch keine vorgezogenen Bundestagswahlen. Keine Personalie muss geklärt werden. Eigentlich kann die große Koalition nun zwölf Monate ruhig arbeiten und auch mutige Entscheidungen treffen. Denn die Mehrheit hat sie. Noch.