NRW-Flüchtlingsministerin räumt Fehler ein Darum scheiterte die Abschiebung des mutmaßlichen Attentäters von Solingen
Düsseldorf · Josefine Paul, NRW-Ministerin für Flucht und Integration, spricht über Fehler und Versäumnisse bei der Rückführung des Attentäters von Solingen. Das System funktioniere bisher deutschlandweit nicht.
Fehler, Versäumnisse, halbgare Regelungen – und der Unterschied zwischen Vorschrift und „gelebter Praxis“: Nach Ansicht von Josefine Paul (Grüne), NRW-Ministerin für Flucht und Integration, haben offenbar Versäumnisse bei kommunalen Behörden und fehlende Flugmöglichkeiten nach Bulgarien eine rechtzeitige Abschiebung des mutmaßlichen Täters von Solingen verhindert. Die Ministerin kündigte erste Konsequenzen an. Auf die Frage, wer dafür eigentlich die politische Verantwortung übernehmen müsse, sagte Paul am Dienstag gegenüber Journalisten in ihrem Ministerium in Düsseldorf: „Wir haben uns das jetzt sehr genau angeschaut und sind jetzt im Bereich der Sachverhaltsaufklärung, weil sich dieser Fall nach dem Freitag anders darstellt. Die Frage ist: Was folgt daraus für die bessere Aufstellung des Systems?“
Eine Frage, die auch Paul und die nordrhein-westfälische Landesregierung noch beantworten muss. Denn das bisherige System von Abschiebungen und Überstellungen bezeichnete Paul nach offenbar sorgfältiger nachträglicher Analyse des Falls, der so in Deutschland täglich „hunderte Male“ passiere, wie Paul sagte, als „im Kern dysfunktional“. Soll heißen: Zu viele Zufälle und unklar geregelte Abfolgen spielen offenbar eine Rolle, wenn Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung dieses Land wieder verlassen müssen und sollen.
Bei dem mutmaßlich islamistischen Anschlag hatte ein Angreifer am Freitagabend auf dem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt. Mutmaßlicher Täter ist der 26-jährige Syrer Issa Al H., der in Untersuchungshaft sitzt. Er war im Januar 2023 nach Deutschland eingereist und verließ Deutschland nicht mehr, obwohl er nach Bulgarien zurückgeführt werden sollte. In jenes EU-Land, das den mutmaßlichen Täter zuerst aufgenommen und registriert hatte nach seiner Flucht aus Syrien.
Zwei wesentliche Knackpunkte für das Nichtgelingen dieser Überstellung nach Bulgarien habe es gegeben, so die Ministerin: Am Tag der Überstellung sei der Mann im Juni 2023 nicht in der Zentralen Unterbringungseinrichtung in Paderborn angetroffen worden, so Paul. Durchsuchungen habe es zum damaligen Zeitpunkt nicht geben dürfen. Wohl aber, wie man jetzt über das Buchungssystem der Einrichtung herausgefunden hat, war er am Tag davor und am Tag danach in der Einrichtung. Er sei also „nicht untergetaucht“. Hatte er Kenntnis von der geplanten Überstellung? „Das wissen wir nicht“, sagte Paul.
Und: Schon zuvor waren zwischen der Überstellungs-Anordnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 18. März 2023 und dem Termin der geplanten Überstellung am 5. Juni 2023 rund elf Wochen vergangen. Offenbar weil es zu wenig Fluggelegenheiten nach Bulgarien im Rahmen eines staatlichen Abkommens mit Deutschland gebe, wie Paul sagte.
Zweites Versäumnis sei gewesen, dass die zuständige Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) nach dem ersten gescheiterten keinen neuen Rückführungsflug für den Syrer angemeldet habe. Für die Rückführung galt eine Frist von einem halben Jahr. Da es eben aufgrund der Bestimmungen Bulgariens nur sehr wenige mögliche Flüge nach Sofia gebe und pro Flug grundsätzlich nur zwei Überstellungen möglich seien, wäre ein neuer Flug erst nach Ablauf der Frist in elf bis 13 Wochen möglich gewesen wäre. Eine Überstellung auf dem Landweg sei nicht möglich gewesen, auch Charterflüge zu diesem Zweck dürfen demnach nicht in Bulgarien landen, hieß es von der Ministerin. Dass danach kein neuer Flug gebucht worden sei, sei „ein Versäumnis“, so Paul. Auch, dass die Leitung der Paderborner Einrichtung versäumt habe, die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld zu informieren, dass der Mann nach dem verpassten Termin wieder da gewesen sei. Beides „war bisher in dem Maße nicht so klar geregelt“ gewesen, so Paul, werde jetzt aber „nachgeschärft“.
Das heißt: Künftig müssten die kommunalen Unterbringungseinrichtungen immer melden, wenn Asylbewerber nach gescheiterten Abschiebungen wieder auftauchen, sagte Paul. Das werde sie „dezidierter anweisen“. Regelwerke des BAMF müssten künftig den nachfolgenden Behörden zur Kenntnis gegeben werden. Die Ausländerbehörden müssten zudem sofort nach Scheitern eines Überstellungsflugs einen neuen Flug buchen. Sie sollten zudem künftig Zugriff auf das zentrale Anwesenheitssystem der Unterbringungseinrichtungen bekommen. Damit könnten sie dann selbst die Anwesenheit von abschiebungspflichtigen Personen prüfen.
Paul forderte auch eine bessere bundesweite Koordinierung von Rückführungsflügen. „Dieses System ist so komplex und im Kern dysfunktional“, sagte Paul. Dass Rücküberstellungen scheiterten, sei die Regel. Nur zehn bis 15 Prozent der Überstellungen nach den Dublin-Regeln hätten Erfolg. Mit Blick auf die gescheiterte Abschiebung des mutmaßlichen Täters von Solingen sagte Paul: „Der Fall ist vor dem Freitagabend sicherlich einer gewesen, wie es ihn zu Hunderten in diesem Land gibt.“