Überlebender des Anschlags in Halle zu Gast „Wir leben, wir bleiben, wir gehen nicht weg“
Düsseldorf · Esther Dischereit und Ismet Tekin, ein Überlebender des Anschlags in Halle im Oktober 2019, waren zu Gast in der Zentralbibliothek. Ein Buch dokumentiert seine Erfahrung und die weiterer Zeugen.
Bevor Esther Dischereit aus ihrem Buch las, spielte sie ein Lied ab. „Kol Nidre“, das Gebet zum Versöhnungstag, Jom Kippur, gesungen vom griechischen Kantor Estrongo Nachama. Traurig klangen die Töne, aber zwischenzeitlich auch hoffnungsvoll.
Zur musikalischen Einstimmung auf die Lesung passte das Lied in mehrfacher Hinsicht. Das Buch, um das es am Dienstagabend ging, „Hab keine Angst, erzähl alles“, widmet sich dem Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019. Ein Rechtsextremist hatte zwei Menschen erschossen, weitere verletzt, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Anwesend war nicht nur die Herausgeberin Esther Dischereit, sondern auch einer der Überlebenden, Ismet Tekin.
Normalerweise ist Dischereit nicht dokumentarisch, sondern literarisch unterwegs, etwa mit Gedichten. Bei „Hab keine Angst, erzähl alles“, lässt sie vor allem die Überlebenden des Anschlags zu Wort kommen, zum Teil aus dem Englischen übersetzt, sprachlich geglättet oder gekürzt, ansonsten unverändert.
So las Dischereit beispielsweise aus einem Interviewgespräch mit der Überlebenden Sabrina Slipchenko vor: „Gerade an jener Stelle des Gottesdienstes, während von einer Ziege als Opfergabe die Rede ist, hörten wir einen Knall.“ Keineswegs verhielten sich die Menschen in der Synagoge passiv: „Wir nahmen Decken und versuchten, daraus Stricke herzustellen, sodass wir im Notfall in der Lage wären, aus dem Fenster zu springen.“
Überlebende haben Gelegenheit, das Attentat auch einzuordnen
Im Buch schildern die Überlebenden nicht nur, was am Tag des Anschlags und danach passiert ist, sondern ordnen das Attentat auch ein. „Das Problem ist die rassistische Mentalität, die in der Gesellschaft tief verwurzelt ist“, so Slipchenko: „Diese Rede vom einsamen Wolf oder Einzeltäter macht es für die Gesellschaft erträglicher: Okay, das Problem, das wir haben, hat nichts mit strukturellem Rassismus zu tun, sondern das ist einfach einer, der verrückt ist.“ Dabei sei der Täter auch durch den Alltagsrassismus inspiriert.
Eine andere Überlebende, deren Worte Dischereit in der Zentralbibliothek vorlas, hatte in ihrer Zeugenaussage nicht nur ihre eigene, sondern auch die Geschichte ihrer Oma, einer Auschwitz-Überlebenden, erzählt: „Meine Großmutter hatte niemals die Möglichkeit, vor einem deutschen oder gar einem internationalen Gericht auszusagen. Und heute habe ich diese Möglichkeit. Und ich will, dass das Gericht weiß: Auch wenn die Shoa vorbei ist, die Auswirkungen sind nicht vorbei.“
Ezra Waxman, ein weiterer Zeuge des Anschlags, hatte im Gerichtssaal ein Lied in jiddischer Sprache vorgetragen. „Das war für mich ein symbolischer, politischer Akt“, so Dischereit. Waxman habe sich „aus dem zugewiesenen Status des Opferseins“ befreit, auch durch seine Fragen an den Täter.
Den Täter lässt das Buch nicht zu Wort kommen. Ismet hat wie andere auch gesagt, dass er das nicht ertragen würde, wenn der Täter eine Stimme hat, sei sie noch so kontextualisiert, erklärte Dischereit. Wichtig sei, „dass das, was die Betroffenen zu sagen haben, festgehalten wird“.
Dann sprach Tekin, der im Imbiss „Kiez-Döner“, einem der Anschlagsorte, gearbeitet hatte. „Deutschland war für mich ein Vorbildland“, sagte er. Durch den Anschlag sei er wach geworden: „Deutschland tötet Menschen.“ Viele Deutsche seien noch tief im Schlaf. „Solange mich das nicht betrifft“, sei eine verbreitete Einstellung. „Ihr habt auch Kinder. Wollt ihr, dass diese auch so was erleben?“, fragte Tekin.
Doch auch die hoffnungsvollen Töne waren am Dienstagabend zu hören. Nicht nur auf den Widerstand der Überlebenden ging die Lesung ein, sondern auch auf die Solidarität, die sich nach dem Attentat gezeigt hatte, in der Nachbarschaft und darüber hinaus. Auch vier Jahre nach dem Attentat sei der Schmerz so groß wie am ersten Tag, sagte Tekin, doch zugleich betonte er: „Wir leben, wir bleiben, wir gehen nicht weg.“