Stadt-Teilchen Das Mörsenbroicher Ei: der furchtbarste Ort in Düsseldorf
Was aus dem Traum von Stadtplanern in Düsseldorf geworden ist.
Es gibt Orte in Düsseldorf, die müssen Stadtplanern wie ein Stück vom Himmel erscheinen, weil dort alles, was sie planen, auf jeden Fall eine Verbesserung mit sich bringen würde. Das Mörsenbroicher Ei ist so ein Ort. Was immer man dort anstellen mag, es wird besser sein als das, was jetzt ist, weil das, was jetzt ist, mit „großer Mist“ nur unzureichend beschrieben wäre. In der Liste der furchtbarsten Orte der Stadt müsste das Mörsenbroicher Ei auf jeden Fall unter den ersten Drei rangieren, noch vor dem Worringer Platz, und das will was heißen.
Dabei ist das Ei ja eigentlich ein Nicht-Ort, denn auf der offiziellen Stadtkarte sucht man das Ei vergeblich. Das Ei ist quasi das Bielefeld von Düsseldorf, ein Ort, von dem alle reden, den es aber in der Realität gar nicht gibt, weil es ja nur geben kann, was schriftlich fixiert in den behördlichen Akten steht. Das Ei existiert aber nur in Volkes Mund und in den Verkehrsnachrichten, wo das Ei dem angrenzenden Stadtteil immerhin landesweite Berühmtheit zwischen Aachen und Bad Oeynhausen verschafft hat, weil am Rande von Mörsenbroich ja quasi immer Stau ist, zumindest immer dann, wenn man mal hinhört. Allerdings hat diese Berühmtheit noch nicht dazu geführt, dass Touristen in nennenswerten Massen nach Mörsenbroich geströmt sind, um das Ei zu besichtigen. Jedenfalls wurden noch keine Ausflugsbusse gesichtet. Ist ja auch nicht von Fabergé, dieses Ei. Und ein Schmuckstück schon gar nicht
Natürlich weiß ich, dass das Ei mal der Traum von Stadtplanern war, die davon phantasierten, den Autoverkehr auf einer ovalen Hochstraße übers Gelände zu führen, auf das Fußgänger und Straßenbahnen unten ihre Ruhe hätten. Der Traum wurde niemals Realität, aber das Anhängsel ist übriggeblieben, ein verlorenes Ei quasi.
Wie oft bin ich hier entlang gefahren, von Essen kommend, nach Bilk wollend. Oder von Ratingen einfahrend in Richtung Nordfriedhof abbiegend. Niemals habe ich mir Gedanken über das Ei gemacht, immer nur konzentriert den Weg raus gesucht. Im Ei will man nicht sein, da will man nur durch und weg.
Grund genug, eine Expedition zu starten. Einmal zu Fuß das Ei umrunden, das klingt nach gefährlichem Abenteuer, nach großer Entdeckungssause, bei der man vorher die Verwandten informiert, dass sie die Polizei rufen sollen, wenn man nicht nach spätestens zwei Stunden ein Lebenszeichen von sich gibt.
Ich starte am Büdchen an der nordöstlichen Ei-Ecke, wo obendrauf drei Flaggen wehen, eine für Deutschland, eine für Fortuna und eine griechische. Gegenüber erhebt sich bedrohlich ein abbruchreifer Bürokomplex, der in seiner dreckig-beigen Anmutung genau hier hin passt und als Mahnmal für die schnelle Vergänglichkeit alles Hässlichen prima taugt.
Auf dem Kiosk-Container entdecke ich mehrere Aufkleber, die einen Onlinedienst für Scheidungswillige andienen. Offenbar ist das hier ein sehr guter Ort, um Trennungsbereite einzufangen. Oder was will die vielfache Platzierung sonst ausdrücken? Vielleicht: Wer hier anhält, hat nichts mehr zu verlieren, weil es sich nirgends sonst auf dieser Welt so prima verloren sein lässt wie am Rande des Eis. Ich kaufe eine Cola und überquere die erste Ampel. Gute Flüssigkeitsversorgung ist wichtig auf solch einer Expedition. Ich entdecke ein gelbes Geländer und den Kittelbach, der das Ei unterfließt. Eben noch idyllisches Flüsschen entlang der Heinrichstraße, plötzlich Undergroundgewässer. Die nördliche Düssel wird schon wissen, warum sie bereits einen Kilometer vorher in Richtung Zoopark abgebogen ist und das Ei meidet.
Ich versuche die Ampeln zu zählen und scheitere. Es müssen an die hundert sein, die hier das verkehrliche Chaos zu regeln versuchen. Sie schaffen das an diesem Nachmittag ganz leidlich, denn die Sonne scheint, aber sofort keimt der Gedanke, was das soll, dass an solch einem Un-Ort die Sonne scheint. Völlig nutzlos erscheint mir das, verschwendete Energie, die den Asphalt nur noch lauter macht und alles andere auch, das ewige Gerappel, das Rauschen, das Schleifen.
Es ist ein idealer Ort für Lebensmüde. Einmal in die Mitte des Mörsenbroicher Eis stellen und tief einatmen, aus ist die Maus. Das hier ist die gelebte Klimakatastrophe, wahrscheinlich einer der dreckigsten Orte im Lande. Lustiger Weise steht ungefähr in der Mitte des Eis, also da, wo man sonst das Gelbe sucht, eine Messstation. Akkurat eingezäunt sind die Geräte, und an der Tür zum abgegrenzten Areal weist ein Schild darauf hin, dass hier die Luftqualität gemessen wird. Auf dem Schild findet sich auch ein Satz für die Ewigkeit: „An dieser Station wird die Anreicherung von Luftschadstoffen in Graskulturen und Grünkohlpflanzen ermittelt.“ Doch, das steht da: Grünkohlpflanzen. Das muss man auch erst einmal intellektuell inhalieren. Es klingt wie eine Empfehlung des Mörsenbroicher Chefkochs: Düsseldorfer Grünkohl an Mörsenbroicher Ei. Sachen gibt’s.
An der Ecke zur Brehmstraße entdecke ich Balkone an einem Haus. Balkone! Wer in Dreiteufelsnamen setzt sich auf einen Balkon über dem Ei? Was haben sich die Architekten dabei gedacht? Wollten sie die Aussicht auf die Hölle offerieren? Oder waren Balkone zufällig noch im Angebot?
Das einzig Elegante an diesem Ort ist das Arag-Hochhaus, das alles überragt und seine Benutzer aus dem Moloch heraushebt. Ich schätze ab Etage zehn bekommt man nichts mehr mit von diesem Schlund hier unten, da blickt man, geschützt von dicken Scheiben, hinab auf ein modelleisenbahngleiches Gewusel.
Auf dem Parkplatz gegenüber will jemand offenbar ein Hochhaus bauen. Jedenfalls deutet ein Plakat auf ein solches Vorhaben hin. Von mir aus sollen sie bauen. Sie können es nicht schlechter machen.
Ich wandere weiter gegen Westen, komme aber nicht weit, weil ich gegen den Betonbogen stoße, der die Autoflut von der B1 Richtung Norden lenkt. Überhaupt die Bundesstraßen. Gleich drei stoßen hier aufeinander. Die B1, die B7 und die B8. Sie vereinigen sich kurz, oder sie trennen sich, kommt ganz auf die Fahrtrichtung an. Auf jeden Fall kann man sich zwischendrin den Luxus leisten, auf drei Bundesstraßen gleichzeitig zu fahren. Das wäre doch mal eine Frage für Günther Jauch, und die Lösung hieße dann Mörsenbroicher Ei.
Im Westen taucht der Kittelbach noch einmal auf, und wenn man gegen alle Regeln mal über die Straße hechtet, wo man das nicht soll, stößt man auf ein massives, beinahe edles Steingeländer, das von anderen Zeiten erzählt.
Ein bisschen weiter östlich, wo die Münsterstraße quert, liegt ein Hollandrad im Kittelbach. Ist es gestohlen und dann entsorgt worden? Oder hat es das Chaos oben nicht mehr ausgehalten und sich hinabgestürzt?
Man kommt auf Gedanken an diesem Ort. Mir fällt ein Lied ein, das die Animals in den 60er Jahren geschrieben haben. „We gotta get out of this Place“ haben sie damals gesungen, obwohl sie das Mörsenbroicher Ei da noch gar nicht in seiner jetzigen Form kennen konnten. Heute könnte man mit diesem Song schön den Platz beschallen. Rein phontechnisch wäre das keine Verschlechterung, weil Verschlechterung hier nicht geht. Nichts wie raus hier. Diese Devise erklänge dann den ganzen Tag über dem Gewirr aus Straßen und Wegen und Schienen und Ampeln und Schildern.
Hier ist alles für die Autos gemacht. Für Fußgänger ist das Ei eine einzige No-Go-Area, eine Gegend, wo Mütter ihre Kinder automatisch fester fassen, wo Radler den Schal ins Gesicht ziehen und auf den Bus Wartende aussehen wie Schwerstleidende.
Überleben ist hier alles. Bleiben will hier niemand. Allen geht es wie einem fertig bebrüteten Küken, das auch nur eine Richtung kennt: Raus aus dem Ei.