Mein Jahr 2020 Als stellvertretender Rundfunkbeauftragter der NRW-Diözesen beim WDR beleuchtet Klaus Nelißen das Corona-Jahr aus Kirchensicht „In weiten Teilen war es ein Rau-Jahr“

Kempen. · Die Tage zwischen den Jahren wurden einst als „Rau(h)nächte“ bezeichnet – als wetterbedingt besonders düstere wie chaotische Tage. Das hatte mehr mit dem Glauben des Volkes zu tun als mit dem Glauben der Kirche.

Klaus Nelißen ist in Kempen aufgewachsen.

Foto: Nelißen

Aber dennoch passt das Bild auf das kirchliche Corona-Jahr: 2020 war in weiten Teilen ein Rau-Jahr.

Papst Franziskus hat einst von der „armen Kirche“ gepredigt. Und auf den ersten Blick wird 2020 als das Jahr in die Kirchengeschichte eingehen, aus dem die Kirche deutlich ärmer hervorgegangen sein wird. Warum sollte es ihr anders gehen als anderen Anbietern im mittlerweile umkämpften Markt der Sinn- und Freizeitgestaltung? Wer am Ende dieses krisengebeutelten Jahres schaut, ob er sich sein Fitnessstudio noch leisten kann, der wird bei seiner Steuererklärung auch auf den Kirchenbeitrag schielen. Kirchenvertreter sollten sich nichts vormachen: Die „Seligkeit, getauft zu sein“, ist keine feste Burg und schon gar keine feste Bank mehr im Leben der meisten Menschen hierzulande. Das Corona-Jahr wird einen Säkularisierungsschub bedeuten, wie wenige Jahre zuvor. Aus Köln hört man, dass der Terminstau in den Gerichten bis ins Frühjahr reicht – so viele wenden sich von einer Kirche ab, von der sie sich im Krisenjahr im Stich gelassen gefühlt haben. Das hat für viele zu tun mit dem Unheil des Umgangs mit sexualisierter Gewalt, die in den Kirchenreihen über Jahrzehnte stattgefunden hat und zum Teil systematisch vertuscht wurde. In einem Jahr, in dem bei vielen das Bedürfnis nach Sinnstiftung neu geweckt wurde, war das Kölner Gezeter um die zurückgenommene Missbrauchsstudie oft leider der beherrschende Soundtrack. Und eben nicht die Seelsorge, die Sorge um die Seelen all derer, die um ihre Existenz bangten, um ihre Gesundheit und die Orientierung suchten in einer Zeit, in der gefühlt die ganze Welt auf Sicht fuhr.

Wenig drang in dieser Zeit an orientierenden Worten durch seitens der christlichen Kirchen – ganz unabhängig vom verstörenden Donnerhall um das Thema Missbrauch. Vielleicht war noch der laute und politisch wirksame Ruf der Kirchen vernehmbar, die eigenen Gottesdienste gemäß der ihnen staatlich gewährten Privilegien selbst zu organisieren und damit durchführen zu können – als Kinos, Theater, Kleinkunstbühnen und ja, auch die Fitnessstudios dicht bleiben mussten. Das wurde oft als wenig solidarisch empfunden, als Verstärkung jener Nabelschau, die sich die Kirche mit dem Kölner Gezeter eh schon leistete in diesem Jahr.

Dass die Kirche wenig Orientierung anbot, hat auch mit einer theologischen Armut zu tun, die sich in der Krise offenbarte: Wo sind Männer und Frauen, die sprachmächtig, zugänglich und zugleich tiefengrundiert die passende Gottesrede finden zur allgegenwärtigen Krise? Diese Frage treibt mich selbstkritisch um als einer, der für die Kirchenverkündigung im WDR zuständig ist. Ein sprechendes Bild war der einsame Segen „Urbi et Orbi“ von Papst Franziskus auf dem verregneten wie leeren Petersplatz Ende März, am Anfang der Pandemie. Diese Geste ging um die Welt und seine Worte aus der Predigt hallten nach, in der er sich auf die biblische Geschichte vom Sturm auf dem See bezog: „Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos“. Das Bild des leeren Petersplatzes und das der leeren Kirchen – es hat etwas Erhabenes und zugleich Verstörendes. Denn es wirkt wie ein Blick auf das was kommen könnte: Die „Heiligen Hallen“ stehen verlassen und unter dem Verdacht der Kontamination bindungslos herum. Die Strukturprozesse mancher Diözesen, die sich zumeist im Kern darauf beschränken, dem Priestermangel durch bürokratische Großkonstrukte zu begegnen statt durch einen wirklichen Wandel, verstärken dieses Abdriften ins Bindungslose. Dass das Volkskirchliche, das Kirchen-Volle wegbricht – dieser Blick ist realistisch und kann etwas Rreinigendes haben. Aber worauf?

Den vielleicht wirksamsten Blick wagte der tschechische Priester und Theologe Tomás Halìk im Frühjahr. In seinem viel zitierten Essay „Christentum in Zeiten der Krankheit“ zeichnete er Bild einer Wende vom „statischen ‚Christ sein‘ zum dynamischen ‚Christ werden‘.“ Und er bezieht sich auf die Rede von Papst Franziskus von der Kirche als „Feldlazarett“; als einer gesellschaftlichen Instanz, die sich nicht bequem zurückzieht in eine quasi-heilige Isolation, sondern die „über ihre Grenzen hinausgehen und denen helfen sollte, die physisch, psychisch, sozial und geistlich verwundet werden“.

Tomás Halìk trifft es für mich auf auf den Punkt, wenn er schreibt: „In Katastrophen-Zeiten suche ich nicht einen Gott, der wie ein zorniger Regisseur sich hinter die Bühne unserer Welt gesetzt hat, sondern ich nehme ihn als Kraftquelle wahr, die in denen wirkt, die in solchen Situationen eine solidarische und aufopfernde Liebe erweisen.“

Und das soll nicht verschwiegen werden bei diesem zugegeben eher düsteren Blick zurück auf dieses kirchliche Rau-Jahr 2020: An vielen Stellen sind Christinnen und Christen in ihrem Einsatz für die Kirche und ihren Glauben über sich hinausgewachsen. Sie haben Besuchsdienste organisiert, Hausgottesdienste, Streaming-Angebote, Gebetsverbrüderungen und Essensausgaben. Sie haben durch ihren Einsatz, der zum Teil über Kraftgrenzen reichte, Zeugnis gegeben von jener Kraftquelle, von der Halìk schreibt. Sie sind auf ihre Art Teil einer „bekennenden Kirche“ geworden, die dieses Jahr überdauern wird – sicher auf den ersten Blick ärmer in Bezug auf ihre Mitgliedszahlen, aber zum Teil gefestigter in ihrem Tun.

Allein wenn ich mit einem zweiten Blick auf die Kreativität schaue, mit der Ehren- und Hauptamtliche versucht haben, in diesem Weihnachtsfest lichte Momente zu schaffen, Zeichen der Hoffnung – dann wird mir nicht bange. Vielleicht werden die Kirchen leerer sein, aber das Zeugnis engagierter Christinnen und Christen wird weiter bestand haben – und es wird gebraucht. Denn, wie schreibt es Halìk: „Es ist natürlich, dass wir uns in Zeiten einer Katastrophe zunächst für die zum Überleben notwendigen materiellen Dinge interessieren. Aber es gilt weiterhin: ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.‘“