Nach Brandbrief Die wiedererwachte Bücherei in Krefeld-Forstwald
Krefeld · Leute, kommt bitte wieder häufiger zu uns! Dazu rief das Team der Bücherei Forstwald im Herbst auf. Heute ist sie gerettet.
Es ist noch kaum eine Viertelstunde geöffnet, da steckt man schon mittendrin in der Dorfbücherei-Herrlichkeit, als hätten die anderen sie einstudiert. Frau Weber, 77, betritt den Raum, geht zur Ausleihtheke und sagt, sie wolle sich anmelden. Früher ist sie immer zur Mediothek am Theaterplatz gegangen, dort aber kommt sie nun nicht mehr häufig hin. Das Angebot hier in Forstwald ist zwar kleiner, dafür hat sie die Bücher quasi vor der Haustür.
Wenig später kommt ein Junge herein, er trägt eine medizinische Maske. Es ist Freitag, kurz nach zehn, in der Katholischen öffentlichen Bücherei (KÖB) Maria-Waldrast, und Tom müsste eigentlich in der Schule sein. Aber er ist krank und braucht was zu lesen. Die Maske trägt er, um niemanden anzustecken. Als er ein Buch gefunden hat, legt er es auf die Theke. Mitarbeiterin Gabriele Thelen-Fricke, 69, findet, ein Buch sei aber was wenig. Also zieht Tom noch mal los. Gabriele hängt mit einem Ohr am Telefon. Eine Frau hat angerufen, weil sie ein Buch verlängern möchte. Danach hilft sie ihrem Kollegen Hai Tran, 64, die neue Mitgliedschaft in den Computer einzutragen. Tom taucht wieder vor ihnen auf, hält ein zweites Buch in der Hand, außerdem eine Tonie-Figur. Die nächste Frau betritt den Raum, gibt drei Bücher ab und fragt Tom, was er sich ausgesucht habe. Der Handwerker schaut auch noch vorbei.
Ein wenig verwundert die Betriebsamkeit in der Bücherei schon. Wer im vergangenen Herbst die Warnungen des Teams vernommen hatte, musste beinahe erwarten, hier am Freitagvormittag auf nicht einen Besucher zu treffen. Aber nun ist einiges los in dem Raum, der mit seinen nicht völlig neuen Regalen eine gemütliche Atmosphäre verbreitet, ohne dass man Angst haben muss, hier gleich einen vermoderten Liebesroman herauszuziehen. Das unterscheidet eine Bücherei von einer Buchhandlung, in der alles viel zu druckfrisch ist, um sich wirklich wohlzufühlen.
Noch 2019 hatte die Bücherei das 20-jährige Bestehen seit der Wiedereröffnung mit Streuselkuchen gefeiert. Im Oktober 2022 warf Ines Krebs, inoffizielle Leiterin der Einrichtung, einen Blick in die Ausleihzahlen, erschrak sich und verkündete beim nächsten Teamtreffen: Leute, es sieht gerade ganz drastisch aus. In den ersten Corona-Jahren waren die Ausleihen stark zurückgegangen. Wobei das nur eine längst laufende Entwicklung verschärfte. Man muss keiner Religion angehören, um die Bücherei nutzen zu dürfen, aber früher profitierte sie sehr davon, dass Leute vor oder nach der Sonntagsmesse in der Kirche nebenan auch in die Bücherei gingen. Doch die Zahl der Messebesucher sinkt seit Jahren, immer weniger Menschen haben einen Bezug zur Kirche. Außerdem liegt die Bücherei nicht gerade so, dass man auch mal zufällig an ihr vorbeiläuft. Potenzielle Kunden gebe es viele, sagt Krebs. Noch immer ziehen junge Familien nach Forstwald. Aber viele wüssten schlicht nicht, dass die KÖB existiert. Sie selbst hilft seit mehr als 20 Jahren mit. Als sie ihre Tochter zur Chorprobe brachte, wollte sie nicht für eine Stunde wieder nach Hause fahren, entdeckte die Bücherei und meldete sich schließlich für ein Ehrenamt.
Es gibt heutzutage viele Möglichkeiten, ein Buch zu beschaffen, aber eine KÖB füllt meistens eine Lücke, weil es sie auch in Dörfern und kleinen Gemeinden gibt, in denen die Kommunen keine Leihbücherei unterhalten. Viele Niederrheiner erinnern sich vermutlich noch daran, dass sie ihre ersten Bücher in so einer von den Kirchengemeinden getragenen Einrichtung ausgeliehen haben. Sinkende Ausleihzahlen aber gefährden einen Standort. Das Bistum Aachen, unter das Krefeld fällt, schreibt vor, dass eine gewisse Ausleihquote erfüllt werden muss, um eine finanzielle Unterstützung zu erhalten. Ansonsten finanziert sich die Bücherei in Forstwald durch die Jahresbeiträge der Mitglieder. Die Energiekosten zahlt die Pfarre. Weniger Geld für neue Bücher würde bedeuten, dass das Interesse noch stärker nachließe, bis sich der Aufwand irgendwann nicht mehr lohnt. Dann müsste die Bücherei schließen. So sah das Horrorszenario aus, das Ines Krebs im Kopf hatte, und das zu einer Zeit, in der eine Studie zu dem Ergebnis kam, dass Viertklässler deutlicher schlechter lesen könnten als noch wenige Jahre zuvor. „Wir mussten uns die Augen selber öffnen und dann die der Leute“, sagt Krebs. Bloß wie?
Schließlich beschloss das Team, eine Art Brandbrief zu veröffentlichen, in dem es unter anderem hieß: „Forstwald liest… oder auch bald nicht mehr!!!!“ Der Text erschien auf diversen lokalen Internetseiten und im Pfarrbrief, doch glaubt man Krebs, war ein anderer Verbreitungsweg entscheidend. Der Griff in die Martinstüte am 12. November förderte nicht nur Weckmann, Mandarinen und Schokolade zutage, sondern auch den ausgedruckten Aufruf. Möglich gemacht hatte das der Bürgerverein Forstwald, der für die 1400 Tüten verantwortlich war. „Das war unser großes Glück“, sagt Krebs.
Deshalb haben Gabriele Thelen-Fricke und Hai Tran an diesem Freitagvormittag alles andere als Langeweile, auch wenn es zwischendurch immer wieder ruhig wird. 16 Ehrenamtlerinnen und drei Ehrenamtler teilen sich die Arbeit, dreimal pro Woche hat die Bücherei geöffnet. Fricke ist schon so lange dabei, dass sie nicht mehr so genau weiß, wie lange eigentlich. Irgendwas zwischen 25 und 30 Jahren. Hai Tran ist neu. In der Altersteilzeit hat er nun mehr Zeit. Die beiden haben heute die Verantwortung über die 3861 Romane, Reiseführer, Hörbücher, DVDs und Zeitschriften auf knapp 90 Quadratmetern. Dazu kommen die digitalen Medien, die man sich aufs Handy, Tablet oder den Tolino herunterladen kann.
Gabriele führt Neukundin Frau Weber durch die Regalreihen, erklärt „Hier sind die Krimis, da hinten steht Literatur, dort stehen die Hörbücher, und hier sind die neuen Sachen und Filme.“ Frau Weber fragt nach Empfehlungen.
„Was lesen Sie denn?“
„Nicht so kitschig.“
„Schauen Sie sich mal um. Vielleicht finden Sie was.“
Gabriele geht zurück an ihren PC. Nächste Frage einer Kundin: „Hömma Gabi, weißt du, ob es eine Liste von den Tonies gibt?“
Es waren mal deutlich mehr Bücher als heute. Dann kamen die Experten vom Bistum Aachen und sortierten radikal aus. Was nicht gelesen wurde, hatte fortan keinen Platz mehr. „Ein paar Damen haben geweint“, sagt Krebs. Man stellt es sich ein wenig so vor, als hätten sich einige an einzelne Bücher geklammert und gerufen: „Nein, nicht Pippi Langstrumpf.“ Die Regel lautet nun: Für jedes neue Buch muss ein altes weg. Manche Kinderbuchklassiker werden so selten ausgeliehen, dass Mitarbeiterinnen irrtümlicherweise behaupten, dass sie hier gar nicht mehr in den Regalen stehen. Aber doch, Harry Potter und Pippi Langstrumpf gehören weiter zum Bestand. Auch Handwerker-Bücher spielen in Zeiten der Youtube-Anleitungen keine Rolle mehr. Selbst die religiösen Titel passen in ein kleines Regal in der hintersten Ecke, fast so, als sollten sie versteckt werden. Katholisch ist in der Bücherei bloß der Träger, aber nicht das Medienangebot. Selbst unter den Ehrenamtlern gibt es Atheisten.
Am späten Freitagvormittag schaut Erika vorbei, die ebenfalls zum Team gehört. Erika trägt einen jägergrünen Mantel, wird in diesem Jahr 92 und weiß noch, dass die Bücherei in Forstwald nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, als einige Frauen abgelegte Bücher aus dem Pfarrhaus in eine Scheune schleppten. Vieles hat sich seitdem verändert. Die Zeit der Ausleihkärtchen hinten im Buch ist längst vorbei. Mittlerweile erhält man nicht mal mehr einen Ausweis, sondern bloß noch eine Nummer. Erika will sich heute darum kümmern, die Reiseführer auszusortieren, die vor 2018 erschienen sind. Kaum etwas veraltet schließlich so schnell wie ein Reiseführer. Gabriele versucht für sie, den PC dazu zu bringen, genau diese Titel anzuzeigen. Aber was sie auch probiert, er will nicht so wie sie. Irgendwann fängt sie an, die Titel mit der Hand auf ein Blatt Papier zu schreiben, eine Tätigkeit, die sie lange in Anspruch nimmt. Nach einer Weile verabschiedet Erika sich.
Die letzte Kundin des Tages kreuzt ein paar Minuten nach Mittag auf. Die Mutter möchte zwei Zeitschriften verlängern. Sie erzählt von ihrem 13-jährigen Sohn, der hier im Grunde schon alles gelesen hat, was für ihn geeignet ist. Auch seine ersten Bücher hat er hier geliehen. „Die Bücherei muss bleiben“, sagt die Frau. Auch die Leiterin der Forstwalder Grundschulbücherei schaut vorbei. Sie bringt das Schild mit, das sie auf dem Wochenmarkt aufgestellt haben, um auf ihre Einrichtung hinzuweisen. In der KÖB hat die Frau die Verantwortung für die Kinderbücher, das liegt nahe. Aber da sie schon mal hier ist, erzählt sie Gabriele, dass sie jemanden suche, der ihr zuhause eine Lampe austausche. Gabriele bringt ihren Mann ins Spiel. „Du kannst ihn ja mal unverbindlich fragen“, sagt die Frau von der Grundschule.
Der Freitagvormittag zeigt, in der Bücherei ist wieder mehr los. Gleich nach dem Aufruf stieg die Zahl der Ausleihen wieder, berichtet Krebs. 227 aktive Benutzerinnen und Benutzer waren es Ende 2022, 50 mehr als drei Monate zuvor. Allerdings war die Bücherei auch nie so richtig in Gefahr, wie sich erst im Nachhinein herausstellte. Das Ganze beruhte auf einem Missverständnis, das eine Anfrage der WZ an das Bistum Aachen beheben konnte. Ines Krebs war davon ausgegangen, dass die Ausleihquote bei mindestens 2,0 pro Jahr liegen müsse, um die Förderung zu erhalten. Dass also bei einem Bestand von beispielsweise 1000 Büchern im Jahr mindestens 2000 Ausleihen nötig wären. Das aber stimmt nicht. Es reicht eine Quote von 0,5. Die erfüllte die Bücherei auch im vergangen Jahr locker, da lag die Zahl bei 1,6. Die Quote von mindestens 2 ist nur dann nötig, wenn eine andere Bedingung nicht erfüllt wird: Pro 15 Quadratmeter dürfen höchstens 1000 Medien untergebracht werden. Das soll dafür sorgen, dass regelmäßig alte Bücher aussortiert werden. Aber auch das schafft die KÖB Forstwald locker. Die Zukunft der Bücherei ist erst mal gesichert.
Was aber nichts daran ändert, dass es die Bücherei weiter schwer haben wird. Nicht nur, weil die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche weiter zurückgeht. Deshalb müssen sie schon die Jüngsten erreichen. Früher kam eine Erzieherin mit ihrer Kitagruppe von nebenan jede Woche vorbei, sagt Krebs. Doch die arbeitet dort nicht mehr. Seitdem bleiben auch die Kinder weg. Dabei gehört der Kindergarten zur selben Pfarre, und die Kinder schauen hier gern mal von außen herein. Die Gespräche mit der Kindergartenleitung sind bisher gescheitert. Immerhin wird die Bücherei bald einen Instagram-Account bekommen. Ein junger Kollege will sich darum kümmern.
Freitagmittag, kurz vor eins. Seit 12.30 Uhr ist die Bücherei geschlossen, aber Gabriele hat die Liste erst jetzt vollendet. Da fällt ihr ein, dass sie noch 15 Euro für einen Jahresbeitrag vermerken muss. Doch der Tagesabschluss ist schon gemacht. Einen weiteren lässt der Computer nicht zu. Jetzt stimmt die Kasse nicht. Gabriele sieht sich die ausgedruckte Tagesbilanz an und sagt: „Ach, ich schreib das einfach daneben.“