Couch-Kino Streaming-Tipp: „Chernobyl“ – Lügen bis zur Apokalypse

Krefeld · Die fünfteilige Sky-Miniserie beleuchtet die reale Reaktor-Katastrophe aus dem Jahr 1986 mit unnachgiebiger Eindringlichkeit – und zeigt den Preis von Lügen und Vertuschung.

Kann das wahr sein? Entsandte der sowjetischen Behörden schauen auf die Überreste des explodierten Atom-Reaktors.

Foto: picture alliance/dpa/Sky/HBO

Am 26. April 1986, 1.23 Uhr, explodierte Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Inzwischen steht die Tragweite dieses Ereignisses in den Geschichtsbüchern als nukleare Katastrophe, die wahrscheinlich bis heute Hunderttausende Menschenleben gekostet hat. Aber: Wenige Minuten nachdem der über 1000 Tonnen schwere Deckel des Reaktorkerns wie ein Sektkorken in die Luft katapultiert wurde, ist die Geschichtsschreibung im Kontrollraum des Kernkraftwerks noch intakt. Während die Warnleuchten bereits auf das Unwahrscheinliche, das Unfassbare und aus damaliger Sicht schlicht das Unmögliche hinweisen, ringt Anatoli Stepanowitsch Djatlow, der stellvertretende Chefingenieur des Werks, noch mit der Realität. Deutet um. Spielt herunter. Selbst als erste Untergebene als Späher ins nukleare Verderben geschickt werden, wird die Katastrophe noch kleingeredet, so als könnte man auch solch eine Wahrheit mit Worten formen. Kurze Zeit später tanzen Kinder der nahen ukrainischen Stadt Prypjat zwischen schwarzen Ascheflocken, die vom Himmel rieseln. Sie ahnen nicht, dass der nukleare Fallout gefährlich ist. Weil es ihnen keiner gesagt hat. Weil es noch keiner glauben will. Weil offiziell der Reaktor eines Atomkraftwerks nicht einfach offen liegen kann.

Die Mini-Serie „Chernobyl“ befasst sich mit den fatalen Nachwirkungen eines gescheiterten Reaktor-Tests. Es ist eine Geschichte übers Lügen, über Schuld und über die Unfähigkeit der Menschen, eine Katastrophe als solche anzuerkennen. Sie wirkt damit in den heutigen Tagen so aktuell wie eh und je. Die Serie zeigt, unter welchen Bedingungen Fehlinformationen und Halbwahrheiten wachsen und gedeihen. Gleichzeitig ist die Fallhöhe so hoch wie nur vorstellbar. Es geht nicht um weniger als das Leben von unzähligen Menschen. Und im späteren Verlauf gilt es sogar eine Katastrophe abzuwenden, die potenziell den gesamten Kontinent gefährdet.

Autor Craig Mazin zeichnet in fünf beeindruckenden Folgen die Ereignisse kurz vor und nach der Katastrophe nach. Der Stoff funktioniert dabei einerseits als Historien-Thriller, der durch seine akribische Aufarbeitung der Details fesselt. Gleichzeitig ist die Sky-Serie aber auch ein tief menschliches Drama. Sie zeigt den Feuerwehrmann Wassili Ignatenko, der zu einem simplen Feuer im Kernkraftwerk gerufen wird und dessen schwangere Frau bald realisieren wird, wie grausam die Folgen einer Strahlenvergiftung sein können. Sie zeigt die Menschen der Stadt Prypjat, die von einem auf den anderen Tag ihr Leben hinter sich lassen müssen, weil der vertraute Kosmos, den sie kennen, zur Sperrzone erklärt wird. Sie zeigt den Einberufenen Pavel (Barry Keoghan, „Dunkirk), der später in menschleeren Häusern zusammen mit anderen Soldaten die zurückgelassenen Haustiere erschießen muss.

Regisseur Johan Renck („Breaking Bad“) inszeniert die unsichtbare Strahlenbedrohung so eindringlich wie in einem Horrorfilm. Ein Feuerwehrmann hebt einen vermeintlichen Stein vom Boden auf. Wenige Augenblicke später sieht seine Hand so aus als hätte er sie in einen Teekessel mit kochendem Wasser gesteckt. Den Zuschauer befällt wie die Menschen in Prypjat langsam der schleichende Verdacht, dass in einem Atomkraftwerk mit Mächten gearbeitet wird, die die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigen. So werden auch die Krankenhausszenen zur harten Kost. Denn „Chernobyl“ geht auch hier ins vernichtende Detail.

Serien-Schöpfer Craig Mazin hat im Prinzip einen monumentalen fünfstündigen Katastrophenfilm geschaffen, dem ihm wahrscheinlich mit Blick auf sein bisheriges Werk („Hangover 2&3“, „Scary Movie 3&4“) so wohl niemand zugetraut hätte. Die dichte Atmosphäre der Serie lässt keinen Platz für Klamauk und zieht sich durch Kleidung, Kulisse bis hin zum Sounddesign.

Komponistin Hildur Guðnadóttir („Joker“) gelang ein Geniestreich. Ihre Original-Musik besteht zu 100 Prozent aus Tönen, die die isländische Oscar- und Emmygewinnerin, in einem echten litauischen Kernkraftwerk aufgenommen hat. Natürlich im Strahlenschutzanzug. So lieferten summende Elektronik, knallende Stahltüren und ächzende Leitungen die Basis für einen Soundtrack, der so wirkt, als sei er nicht von dieser Welt. Eine bessere Untermalung ist nicht vorstellbar.

2019 titelten einige Medien etwas reißerisch, „Chernobyl“ sei die „beste Serie aller Zeiten“, weil sie auf der Film- und Seriendatenbank IMDb eine Rekordbewertung durch die Zuschauer erhalten hat. Vereinzelte Kritik gab es lediglich für die Tatsache, dass die Serie sich ein paar dramaturgische Freiheiten nimmt. Während sich die Macher in vielen Punkten akribisch genau an den Fakten entlang hangeln, stützen sie sich an anderen Stellen (nachvollziehbar) auf Fiktion. Eine der Hauptfiguren, die Wissenschaftlerin Ulana Chomjuk (Emily Watson, „Equilibrium“), hat es beispielsweise nie gegeben. Sie steht stellvertretend für eine Reihe von Wissenschaftlern, die mit dem Leiter des Untersuchungskommitees Waleri Alexejewitsch Legassow (Jared Harris, „Mad Men“) zusammengearbeitet haben. Und bei der Ursachenforschung die vielen kleine Mosaikstückchen zu einem klaren Bild zusammensetzten.

Die wahren Helden der Geschichte sind aber wohl die sogenannten Liquidatoren. Auch von ihnen erzählt „Chernobyl“ auf eindrucksvolle Weise. Es sind die Menschen des Zivilschutzes, die kontaminierte Erde abgetragen haben, Bergwerkarbeiter, die mit einem Tunnel eine größere Katastrophe verhinderten und das medizinische Personal. Sie alle haben sich aufgeopfert, ihr Leben gegeben oder signifikant verkürzt. Diese heroischen Szenen gehen unter die Haut. Und vielleicht werden sie manchen Zuschauer auch noch länger verfolgen. Schließlich ist dieser Teil der Geschichte keine Fiktion.