Aussichten der Direktkandidaten Offenes Rennen um die Gröhe-Nachfolge

Neuss · Haustürwahlkampf, Partei-Sonnenschirme vor Supermärkten, gefühlt jeden Abend eine Fernsehdebatte: All das ist Sonntag vorbei, ein neuer Bundestag wird gewählt. Auch im Rhein-Kreis Neuss. So stehen die Aussichten für die wichtigsten Kandidaten.

Auszählung von Stimmen im Wahllokal (Archivbild).

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Gerade ist viel Action für Carl-Philipp Sassenrath. Er und seine Verlobte Theresa erwarten ihr erstes Kind, errechneter Geburtstermin ist in gut zwei Wochen. Und dann ist Sassenrath ja auch noch Direktkandidat der CDU im Wahlkreis Neuss I, macht gerade Wahlkampf-Endspurt und erfährt Sonntagabend, ob er Bundestagsabgeordneter werden darf. Erst Parlament, dann Pampers? „Wir hoffen, dass die Chronologie hält“, sagt er und lächelt.

Sassenrath gegen SPD-Kandidat Daniel Rinkert, das ist im Rhein-Kreis Neuss das spannendste Duell bei dieser vorgezogenen Bundestagswahl. Es geht um die Nachfolge von Ex-Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (63), der den Wahlkreis zuletzt fünfmal in Folge für die CDU holte und jetzt nicht mehr antritt. Als Gröhe 1994 erstmals in den Bundestag kam, war Sassenrath vier Jahre alt und Rinkert sechs. Egal, wie das Duell zwischen den beiden ausgeht: Es wird ein Generationswechsel beim Direktmandat für Neuss, Dormagen, Grevenbroich und Rommerskirchen.

Will erstmals in den Bundestag einziehen: Carl-Philipp Sassenrath (CDU).

Foto: Melanie Zanin/Melanie Zanin(MZ)

Ganz anders hingegen im Wahlkreis Krefeld I - Neuss II, der im Rhein-Kreis die Städte Jüchen, Kaarst, Korschenbroich und Meerbusch umfasst. Hier kandidiert Ansgar Heveling (52) bereits zum fünften Mal. In der CDU/CSU-Fraktion gehört er zu den Erfahrensten, schon seit 16 Jahren sitzt der Korschenbroicher im Bundestag. Und seine Chancen, sich gegen SPD-Kandidatin Ina Spanier-Oppermann durchzusetzen, sind mehr als günstig: Abgesehen vom Bundestrend, der die Union um Kanzlerkandidat Friedrich Merz deutlich vorne sieht, gilt Hevelings Wahlkreis als tiefschwarz. Die SPD hat hier noch nie gewinnen können.

Glaubt man den Meinungsforschungs-Anbietern, die Zahlen auf Wahlkreisebene angeben, ist das Rennen auch diesmal schon so gut wie gelaufen, und zwar in beiden Wahlkreisen. Neuss I und Neuss II gehen an die CDU – das ist die Prognose von YouGov („wahrscheinlich“), wahlkreisprognose.de („sicher“) und Insa Consulere („wahrscheinlich mehr als 3% Vorsprung“).

In Wahrheit ist die Sache natürlich komplizierter. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass Wahlprognosen auf Kreis- und Städteebene nur mit allergrößter Vorsicht zu genießen sind.

Kleiner Rückblick: Bei der Bundestagswahl 2021 holte die CDU im Rhein-Kreis insgesamt 31,1 Prozent der Zweitstimmen und lag in allen acht Kommunen vorn. Beide CDU-Direktkandidaten (Heveling und Gröhe) verteidigten ihr Direktmandat. Trotzdem war am Tag danach in der NGZ von einem „Wahlsieg mit blauem Auge“ die Rede: Gröhe war von 44 Prozent bei der vorherigen Wahl auf 35,8 Prozent abgerutscht; Heveling von 42,5 auf 33,4 Prozent. Auch bei ihrem Zweitstimmen-Ergebnis hatte die CDU gegenüber 2017 ordentlich Federn lassen müssen – und 2017 war es im Rhein-Kreis schon das schlechteste Ergebnis seit mehr als 40 Jahren gewesen.

Ausgang im Wahlkreis Neuss 1 offener als jemals zuvor

Will sein Bundestagsmandat auf alle Fälle verteidigen: Daniel Rinkert (SPD).

Foto: Wolfgang Walter

Was das für die Wahl am Sonntag bedeutet? Dass ihr Ausgang zumindest im Wahlkreis Neuss I offener ist als jemals zuvor. Der Amtsbonus des honorigen Polit-Promis Hermann Gröhe fällt weg; richten soll es für die CDU jetzt der sicher talentierte, aber relativ unbekannte Sassenrath. Sein Kontrahent Daniel Rinkert hingegen ist bereits seit 2022 Bundestagsabgeordneter (damals kam er als Nachrücker für einen verstorbenen Parlamentarier ins Parlament), ist Chef im SPD-Kreisverband und seit vielen Jahren in der Kommunalpolitik aktiv. 2021 fehlten ihm nur knapp vier Prozent der Erststimmen für ein Direktmandat – und das, wohlgemerkt, gegen Gröhe. Dieses Rennen dürfte offen sein.

Und es gibt weitere spannende Fragen, die am Sonntag auch die Wählerinnen und Wähler im Rhein-Kreis Neuss beantworten werden:

Schafft Ex-FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai den erneuten Einzug ins Parlament? Chancen auf ein Direktmandat hat der Grevenbroicher nicht – aber einen komfortablen Platz 3 auf der Landesliste. Der freilich zieht nur, wenn die FDP im Bund nicht an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert.

Kommen die Grünen noch einmal an ihr gutes Ergebnis von 2021 heran? Damals waren es kreisweit 14,4 Prozent; in Korschenbroich und Meerbusch sogar fast 17 Prozent. Klimaschutz spielte im aktuellen Wahlkampf nur eine untergeordnete Rolle, ist aber auch im Rhrein-Kreis Neuss vielen Menschen weiter wichtig.

Wie stark wird die AfD in der Region? Umfragen sehen die Rechtspopulisten bundesweit bei 20 Prozent; in NRW könnten sie laut Infratest Dimap bei 15 Prozent einlaufen. Zur Erinnerung: Bei der letzten Bundestagswahl kam die AfD im Rhein-Kreis auf 6,3 Prozent der Zweitstimmen. Diese Zeiten dürften erstmal vorbei sein.

Bijan Djir-Sarai (FDP) kommt in den Bundestag – wenn seine Partei die Fünf-Prozent-Hürde schafft.

Foto: dpa/Carsten Koall

Und schließlich: Bekommt der Wahlkreis Neuss I überhaupt einen direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag?

Diese letzte Frage ist nicht so abwegig, wie sie zunächst klingt: Die Ampel-Koalition hat das Wahlrecht reformiert, um die Zahl der Sitze im Parlament zu begrenzen. Jede Partei bekommt jetzt nur noch exakt so viele Mandate, wie ihr über den Zweitstimmenanteil zustehen – egal, wie viele Wahlkreise sie per Erststimme gewonnen hat. Ein denkbares Szenario wäre also dieses: Sassenrath holt den Wahlkreis Neuss I, geht im Parlament aber leer aus. Stattdessen ziehen die unterlegenen Rinkert und Djir-Sarai über ihre Listenplätze in den Bundestag ein. Klingt verrückt, findet das Bundesverfassungsgericht aber in Ordnung.

So eine Konstellation kann freilich nur dann eintreten, wenn eine Partei mehr Erststimmensieger hat, als durch ihr Zweitstimmenergebnis gedeckt ist. Man könnte sagen: Die Zweitstimme war noch nie so wichtig wie bei dieser Wahl.

Und vielleicht war auch noch nie eine Bundestagswahl so wichtig wie diese. Für den Rhein-Kreis Neuss, weil für Themen wie den Strukturwandel im Rheinischen Revier die Weichen in Berlin gestellt werden. Und für Deutschland, weil eine neue Bundesregierung schnellstens Antworten finden muss auf die drängenden Fragen unserer Zeit: von der bedrohten europäischen Sicherheit über die lahmende deutsche Wirtschaft bis hin zur maroden Infrastruktur und der Frage, wie das alles bezahlt werden soll.

Darüber mitzuentscheiden, ist in unserem Land Ihr gutes Recht. Machen Sie bitte Gebrauch von diesem Privileg – und gehen Sie wählen!