Jugendkriminalität So kämpft NRW gegen kriminelle Kinder
Düsseldorf · Mit dem Projekt „Kurve kriegen“ versucht die Polizei, schon Achtjährige von einer Karriere als Intensivtäter abzuhalten.
Seit der beinahe tödlichen Attacke auf einen 70 Jahre alten Rentner Ende Mai ist die Wuppertaler „Gucci-Gang“ – ein Zusammenschluss von Jugendlichen und zum Teil noch Kindern, die gemeinsam Straftaten begehen – bundesweit in den Schlagzeilen. Doch die Bande, die im Bergischen schon seit Monaten Polizei, Justiz und Jugendamt beschäftigt, ist weit mehr als ein krasser Einzelfall. Sie wirft ein Schlaglicht auf einen Kriminalitätsbereich, der den Strafverfolgern weitgehend verschlossen bleibt: 15 356 Kinder unter 14 Jahren wurden 2018 als Tatverdächtige im Zusammenhang mit Straftaten ermittelt; belangt werden können sie noch nicht.
Dass sehr junge Menschen schon die schiefe Bahn einschlagen, sich sogar in Gruppen organisieren, ist nicht so selten, wie viele glauben möchten. Schon vor zehn Jahren marodierte eine Jugendbande – zehn Köpfe, ab 16 Jahre alt – durch den Düsseldorfer Süden, brach in mindestens 40 Häuser ein, kaufte von der Beute teure Fernseher oder ließ sich in der Stretchlimousine durch den Stadtteil fahren. Die Polizei überführte die Täter, sie kamen in Haft – nur um nach ihrer Entlassung erneut zig Einbrüche zu begehen. Erst Anfang April dieses Jahres zerschlug die Polizei in Mönchengladbach eine neunköpfige Bande im Alter ab 14 Jahren, der rund 60 Delikte zugeordnet werden konnten. Ende Mai gestand ein Zwölfjähriger aus Stolberg bei Aachen drei schwere Raubversuche, die er mit drei 14, 15 und 17 Jahre alten Freunden begangen haben soll – ihm als strafunmündigem Hauptverdächtigen droht keine Strafverfolgung.
Die Entwicklung bei der Kinder- und Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen ist generell positiv. Sowohl die Zahl der tatverdächtigen Kinder sank zwischen 2009 und 2018 (von 22 828 auf 15 356) als auch die der tatverdächtigen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren (von 61 847 auf 41 997). Kriminelles Verhalten bei sehr jungen Menschen sei zudem „überwiegend ein entwicklungsbedingtes Phänomen, das in den meisten Fällen episodenhaften und zudem bagatellhaften Charakter aufweise“, heißt es auf Anfrage beim NRW-Innenministerium. Bedeutet: Die jungen Täter testen sich und ihre Grenzen aus – und dann ist es auch wieder gut. „Trotzdem gibt es eine geringe Anzahl von Jugendlichen – etwa sechs Prozent der unter 21-Jährigen –, die eine Vielzahl von Straftaten begeht“, erklärt das Ministerium weiter. „Deshalb ist es wichtig, diese kriminellen Karrieren frühestmöglich zu erkennen und durch abgestimmtes Handeln der zuständigen Behörden und Institutionen, so gut es geht, zu verhindern.“
„Kurve kriegen“ soll Kinder von der schiefen Bahn abhalten
Zu diesem Zweck wurde 2011 in NRW das Projekt „Kurve kriegen“ ins Leben gerufen. Es soll Kinder, bei denen Risikofaktoren erkannt werden, von der schiefen Bahn abhalten. Durch eine Zusammenarbeit von pädagogischen Fachkräften und Polizei. Im Visier sind schon Achtjährige.
Seit 2016 ist Düsseldorf Standort von „Kurve kriegen“. „Ich bin froh, dass ich das Programm habe“, sagt Frank Schier, Jugendbeauftragter der Polizei dort. „Wir erreichen damit Kinder, die wir sonst nicht erreichen.“ Nach dem Regierungswechsel in NRW 2017 habe er Sorge um den Bestand dieser Präventionsarbeit gehabt – doch Innenminister Herbert Reul (CDU) sei wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf der Düsseldorfer Dienststelle gewesen, um sich vor Ort einen Eindruck von „Kurve kriegen“ zu verschaffen. Dann habe er es beibehalten und ausgebaut; 23 Kreispolizeibehörden arbeiten aktuell mit dem Konzept. Und alle seien zufrieden, erklärt Schier, dessen Polizeipräsidium Referenzbehörde für das Projekt ist.
Der Erfolg von „Kurve kriegen“ ist wissenschaftlich belegt. Die Universität Kiel und die Prognos AG haben die Wirksamkeit evaluiert und herausgefunden: 40 Prozent der Absolventen begehen keine Straftaten mehr, bei den restlichen 60 Prozent halbierten sich die begangenen Delikte. Bei den Körperverletzungen gab es sogar einen Rückgang um 75 Prozent. Generell verbessere sich das Sozialverhalten der Teilnehmer messbar. Laut Schier gibt es inzwischen Interesse an „Kurve kriegen“ auch außerhalb von NRW: Berlin etwa erwäge dessen Einführung, die Schweiz ebenso.
Das Programm arbeitet unter dem Leitsatz „Frühe Hilfe statt späte Härte“. „Es gibt nicht DAS Konzept“, verdeutlicht Schier. Vielmehr werde für jeden Einzelfall „ein individuelles Paket“ geschnürt. Manchmal sei das einfach die Organisation von Nachhilfestunden, damit es in der Schule wieder funktioniert, manche Kinder seien aber auch zwei bis drei Jahre im Programm und erhielten intensive Betreuung. Schier: „Man kann da keinen Hebel umlegen.“ Kandidaten für „Kurve kriegen“ seien Kinder, die durch ein Rohheits- oder drei Eigentumsdelikte aufgefallen sind und bei denen es Anhaltspunkte gebe, „dass sie Gefahr laufen, dauerhaft abzugleiten“. Um dieses Risiko und geeignete Maßnahmen zu identifizieren, sind Fachkräfte aus der freien Kinder- und Jugendhilfe per Dienstleistungsvertrag in die Arbeit der Polizei eingebunden, sitzen selbst in der Behörde.
500 Kinder und junge Jugendliche im Präventionsprojekt
Aktuell befinden sich laut Innenministerium rund 500 Kinder und junge Jugendliche im „Kurve kriegen“-Programm. Insgesamt durchliefen es seit dem Start 1300. Nicht alle von ihnen mit gutem Ausgang. Das erlebt auch Frank Schier in Düsseldorf: Manche Kinder gehen mit dem 14. Geburtstag und Erreichen der Strafmündigkeit nahtlos in die Intensivtäterkonzepte der Polizei über – wenn die Kurve innerhalb eines Jahres Betreuung im Präventionsprojekt nicht gekriegt wurde. „Dann muss man auch mal die Reißleine ziehen“, sagt der Jugendbeauftragte. Allerdings seien das die Ausnahmen. Was die Entwicklung bei den in Düsseldorf als Intensivtäter geführten Jugendlichen zeigt: Laut Wolfgang Wierich, Leiter des Jugendkommissariats, ging deren Zahl von mehr als 300 in 2004, als seine Spezialdienststelle gegründet wurde, auf 83 im vergangenen Jahr zurück. Auch, weil weniger junge Schwerkriminelle nachwachsen.