Grenzerfahrungen Wo die Wupper Solingen und Remscheid trennt

Solingen/Remscheid · Gebiete sind menschengemacht. Sie lassen das eine enden, das andere beginnen. Unter der Müngstener Brücke trennt die Wupper als natürliche Linie das Solinger vom Remscheider Ufer. Eine philosophische Momentaufnahme.

Mit der Schwebefähre können Wanderer vom Solinger zum Remscheider Ufer übersetzen.

Foto: Fatima Krumm

Der Mensch soll sich frei entfalten können. So steht es im Artikel 2 des Grundgesetzes. Doch die Beschränkung folgt im zweiten Satzteil: soweit er nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen das Sittengesetz verstößt.

Unter der Müngstener Brücke trennt die Wupper als natürliche Grenze das Solinger vom Remscheider Ufer. Mit der Schwebefähre kann sie einfach überwunden werden. Beim Übersetzen ist es akzeptabel – weil gar nicht anders möglich – an die unbekannten Mitfahrer bis auf wenige Zentimeter heranzurücken. Aber wie würde wohl der Stehnachbar gucken, wenn man ihm auf dem unbegrenzten Platz am Wartesteg der Fähre so dicht auf die Pelle rückt? Es wäre eine unangemessene Nähe. Die Grenze zur Intimsphäre wäre maßlos überschritten.

Grenzen sind kontextbedingt.

Mentale Grenzen

Gesellschaftlich honoriert wird meist die Überschreitung einer persönlichen Grenze. Zumindest im privaten Umfeld und vor allem von sich selbst. Antje Bartens hat erst kürzlich eine solche überwunden. „Ich bin auf ein Pferd gestiegen, meiner Tochter zuliebe“, erzählt die Kinesiologin aus Velbert-Tönisheide. Vor Jahren, so berichtet sie, ist sie mehrmals bei den ersten Reitversuchen unsanft herabgefallen. Seitdem wollte sie nie wieder drauf steigen. „Es hat mich Überwindung gekostet, aber hinterher war ich ganz stolz auf mich“, erzählt Bartens mit Freude. Mit ihrer kinesiologischen Arbeit helfe sie anderen Menschen, körperliche Einschränkungen zu beseitigen. „Viele Blockaden sind stressbedingt“, sagt sie. Allerdings wollten das viele Menschen auch nicht glauben. Damit sie uneingeschränkt gesund bleibt, spaziert die 52-Jährige oft an der Wupper entlang. „Ich genieße die Freiheit hier, da kann ich entspannen.“ Um mit der Seilbahn bis zu Schloss Burg zu fahren, brauche sie ihren Mann nicht.

Auch menschliche Beziehungen brauchen Abgrenzungen. Von anderen und von allem. Seit dem digitalen Zeitalter sind Zeit und Raum grenzenlos. Statt geordneter Dinge im Regal herrscht auf nicht wenigen Festplatten das Chaos digitaler Daten. Alles ist unendlich verfügbar. Früher war mehr weniger. Beispielsweise das Fernsehen. Schlug früher um 20.15 Uhr die Filmstunde, ist sie heute auf Netflix 24/7 vorhanden. Ob Essen, Filme oder Kommunikation. Nichts und niemand ist mehr Gatekeeper.

Gesellschaftliche Grenzen können ebenso fließend sein wie natürliche Grenzen.

Foto: Fatima Krumm

Territoriale Grenzen

Der Mensch ist selbstverantwortlich. Er ist Gatekeeper seines eigenen Reichs. Die Hoheit reicht bei dem einen bis zur Tür der Mitbewohnerin, bei der anderen bis zum Gartenzaun. Ohne abgesteckten Raum gibt es weder Wirkungsbereich noch Zugehörigkeitsgefühl. Abgrenzung definiert das eigene Dasein.

Unterschiede im Dasein nimmt das Ehepaar de Bruin wahr. Seit 30 Jahren kommen Gretha und Rindert de Bruin auf die Schloss Burg, gemeinsam mit Freunden. Deutschland gefällt den beiden Niederländern. „Die Deutschen sind gemütlicher“, sagt Gretha de Bruin. „Und die Häuser sehen anders aus“, fügt ihr Mann hinzu. „Hier haben um 5 Uhr alle schon die Rollläden unten, bei uns ist alles offen“, erzählt er verwundert. Auf dem Weg von der Wupper zur Burg waren an diesem Tag viele Rollläden unten. Vielleicht damit die Sonne nicht hineinscheint, vielleicht aber, damit niemand hineinschaut? Der Grat zwischen ab- und ausgrenzen ist schmal. Der zum alltäglichen, unbemerkten Grenzübertritt ist glücklicherweise breiter.

Der Remscheider Michael Höller wartet am Aussichtspunkt der Burg auf die Sonne. „Ich komme hier oben oft her zum Fotografieren. Ich glaube, ich habe schon jeden Busch in Szene gesetzt“, erzählt der Hobbyfotograf. Während die Seilbahn ihre Höhenmeter überwindet, schaut Höller zu, wie sich die dunkeln Wolken verschieben. Zwischen Solingen und Remscheid merkt er keinen Unterschied.

Dynamische Grenzen

Zur freien Entfaltung gehören für manche Leute schon die nebensächlichsten Dinge des Lebens.

„Hier muss ich mich nicht anpassen. Hier stört niemanden, was ich tue. Ich kann frei sein,“ sagt ein älterer Herr auf die Frage nach seiner alltäglichen Grenzerfahrung. Namentlich möchte er nicht genannt werden.

Anpassung. Ein Wort, das in der heutigen Zeit sehr aufgeladen ist. Einerseits wird Anpassung überall verlangt. Ob im neuen Job oder auf Veranstaltungen, überall gibt es einen Verhaltenskodex. Doch was Lebensformen angeht, da ist die Anpassung längst überholt. Die Grenzen von einst haben sich dem Zeitgeist angepasst. Menschen leben in Beziehungen, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar waren, die zeitweise sogar rechtliche Grenzen überschritten haben. Heutzutage dürfen gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Früher wurde von Zugewanderten die Anpassung im Sinne von vollständiger Assimilation verlangt, quasi das Abstreifen der eigenen Kultur. Heute ist Integration das Ziel. Niemand muss sich mehr verstellen, solange es im gesetzlichen Rahmen liegt.

Auf vielen Ebenen sind Grenzen fließender geworden. Sie werden erweitert, sind fließend und wirken inklusiv.