Serie "Urbanics" Raumebenen entfalten sich in Bildern und Album
Wuppertal · Matthias Neumanns präsentiert eine Auswahl seiner Serie "Urbanics" in einem aufwendigen, handgefertigten Bildband.
Im Moment müssen coronabedingt Erinnerungen und Vorfreude reichen. Dabei liebt es Matthias Neumann unter Menschen zu sein. Das war so, als er sich am Christopher Street Day in die Menge vor dem Kölner Dom mischte. Das war so, als er auf dem Berliner Alexanderplatz stand und in die runde Fensterfassade eines Geschäfts hineinfotografierte. Dabei die vielfachen Aufsplitterungen und Spiegelungen des inneren Geschehens vor ihm und des äußeren hinter ihm mitnahm, Beziehungen herstellte. Wobei „mitnahm“ eigentlich nicht zutrifft. Neumanns Fotografien sind akribisch und geduldig konstruiert, entstehen während vieler Stunden. 38 Arbeiten sind nun in einem hochwertigen Bildband vereint. Darunter auch die aus Köln und Berlin - letzteres ist außerdem sein Lieblingsbild.
Coronakrise verzögerte
die Realisierung
„Urbanics“ heißt das ungewöhnliche, in elegantem Weiß gehaltene Werk, das eben diese Serie Neumanns präsentiert. 2013 entstanden die ersten „perfekten Schnappschüsse“ im meist städtischen Raum, mittlerweile ist die Serie fast abgeschlossen, so dass ihr Schöpfer dem immer wieder an ihn herangetragenen Wunsch nachkommen wollte, sie in einem Buch zugänglich zu machen. Was umfassender Recherche und vieler Gespräche bedurfte - schließlich ist der 60-Jährige Perfektionist.
Anfang 2020 ging es los, mit dabei: Andreas Steffens, Philosoph, Schriftsteller und Freund Neumanns, der schon lange für das Vorhaben geworben hatte. Dritter im Bunde wurde der vielseitige Künstler Max Christian Graeff. Dieser zeigte „viele schöne Dinge, die aber nicht so recht passten“, so Neumann, bis das Wort Leporello fiel. Ein faltbares Heft schien Neumann sowohl zur Form als auch zum Inhalt passen, werden doch „in vielen Bildern Raumebenen entfaltet“. Außerdem erlaube ein Leporello das gleichzeitige Betrachten mehrerer Fotoarbeiten. Die freilich im Original über einen Meter groß sind, weshalb sie im Album der vielen abgebildeten Details wegen nicht zu klein ausfallen durften. 24 mal 32 Zentimeter heißt die, auch wirtschaftlich vertretbare, Lösung.
Durch die Coronakrise verzögerte sich das weitere Vorankommen. Anfang September lag schließlich der erste Dummy vor. Im Oktober wurde gedruckt. Noch bevor die ersten Exemplare fertig waren, lagen 60 Vorbestellungen vor. Dass das alles noch vor Weihnachten geschah, sei das schönste Geschenk für ihn gewesen, sagt Neumann. Noch heute „produziert“ Graeff, fertigt jedes der seitlich mit zwei Klettpunktverschlüssen versehene Album mit der Hand an. 350 sollen es insgesamt werden - hinzu kommt eine Sonderauflage mit dem Bild der Rotterdamer Markthalle (siehe Kasten), dem letzten Bild im Band.
Zur aufwendigen Gestaltung kommt der inszenierte Inhalt. Schließlich ist Matthias Neumann als langjähriger Bratschist beim Sinfonieorchester Wuppertal Bühnenauftritte gewohnt. Er nutzte die Lockdown-Zeit, um sorgfältig aus dem umfangreichen Serien-Material diejenigen auszuwählen, „die Geschichten erzählen, die auf mehreren Bühnen stattfinden, oder die die Bühne selbst sprechen lassen“.
Die Reihenfolge wurde wie bei
einer Inszenierung festgelegt
Dann legte er ihre Reihenfolge fest, die wie im Theater mit dem Vorhang beginnt, der sich für das pralle Leben öffnet. Heißt: Bilder mit vielen Ebenen stehen am Anfang, dann ändert sich die Spannungskurve, schwinden langsam die Menschen, bis nur noch die Bühne bleibt – ein mit Zigarettenkippen verfremdeter Fußabtritt, eine Fabrikfront. Nach einem Intermezzo mit Naturzerstörung und ihrer scheinbaren, eher skurril anmutenden Wiederherstellung sowie weiteren menschenleeren Stadt-Ansichten kehren die Menschen in die Aufnahmen zurück. Schwellen schließlich zur Masse an, die Neumann in den Fokus nimmt, während er einzelne Menschen unscharf verschwimmen lässt.
„Urbanics“ ist des Künstlers Herzensserie, in die er sehr viel Arbeit und Energie investiert. Konstruktion und Zufall gehen hier eine enge Verbindung ein. Licht, Farbrhythmik und auch der Mensch werden sorgfältig eingestellt, viele Bezüge warten darauf entdeckt zu werden. Bis ein Bild stimme, überlege er lange, was noch dazu kommen solle und was nicht, erzählt der Fotograf. Ein funktionierendes Bild habe etwas Gemäldehaftes wie Kupferstiche oder die beeindruckenden Arbeiten der Niederländer im 17. Jahrhundert.
Dazu passt das 22-seitige Begleitheft, das Andreas Steffens geschrieben hat. Er setzt sich grundsätzlich mit der Fotokunst auseinander und geht auf einzelne Bilder von Neumann ein, die „den Prozess ihrer eigenen Entstehung in dem Moment“ anhalten, „in dem aus der Wahrnehmung des Sichtbaren ein Bild des Gesehenen geworden ist.“ Den Moment, in dem ihre Entstehung ihr Ziel erreicht habe. Und der Betrachter, „mehr sieht als da ist“, hofft Neumann.
So wie er hofft, dass nach dem furchtbaren Jahr 2020 mit seinen geleerten Städten und zur Bedrohung gewordenen Menschen, mit seinen ausgefallenen Konzerten und Ausstellungen wieder Menschen zusammenkommen können. Für weitere perfekte Foto-Momente.