Kolumne Wir Unvollendeten

Torsten Krug vom Freien Netzwerk Kultur über Kunst im Angesicht künstlicher Intelligenz.

Torsten Krug vom Freien Netzwerk Kultur.

Foto: Fischer, A. (f22)/Fischer, Andreas (f22)

Kürzlich erzählte ich meiner Gesanglehrerin Elena Fink, dass ein Smartphone von Huawei – jenes chinesischen Konzerns, dem auch Industriespionage nachgesagt wird – Schuberts siebente Sinfonie, die sogenannte „Unvollendete“ fertig komponiert habe. Dazu war die Künstliche Intelligenz eines „Mate 20 Pro“ mit den beiden existierenden Sinfonie-Sätzen gefüttert worden. Die Meinungen nach der Uraufführung in London gingen auseinander. Meine Gesanglehrerin, erfahrene Künstlerin auf Opernbühnen im In- und Ausland, kann dazu nur müde lächeln.

Computer der neuesten Generation, sogenannte Neuronale Netzwerke, sind in der Lage, selbständig zu lernen und Kunstähnliches zu produzieren. „Deep Bach“ heißt ein solches Neuronales Netzwerk, das allein durch Zuhören eigene Regeln formuliert und einen Choral im Stile von Johann Sebastian Bach setzen kann. Apps wie „Jukedeck“, „Amper Music“ oder „Humtap“ können in Sekundenschnelle Songs kreieren anhand einer Melodie, die wir ihnen vorsummen.

Woher stammt unsere Begeisterung für Künstliche Intelligenz? Ist sie Ausdruck eines urmenschlichen Defekts, alles kontrollieren und perfektionieren zu wollen? Spiegelt sie die Sehnsucht nach Überwindung der eigenen Sterblichkeit? „Man muss nicht vollkommen sein“, sagt mein am 16. Februar still und heimlich 96 gewordener Freund Karl Otto Mühl, – „nur vollständig“. Damit meint er das Anschauen und Integrieren der eigenen dunklen Flecken, der schlecht beleuchteten oder gar hässlich unvollkommenen Stellen im Selbstbild. Mühl schöpft aus jahrelanger therapeutischer Aufarbeitung der eigenen Traumata seiner Generation.

Wenn ich mich frage, welche der Tätigkeiten, denen ich seit Jahren nachgehe, ein Computer leisten oder gar ersetzen könnte, kann ich mit gewissem Stolz sagen: keine einzige. Als Künstler, glaube ich, können wir der KI ziemlich gelassen entgegensehen. Bestenfalls liefert uns die Angst vor ihr Stoff für Romane, Theaterstücke oder Musik, sei sie komponiert oder improvisiert. Berührt doch das Wesen der Kunst gerade das Unvollkommene, Unvollendete in uns. Bisweilen ist sie ein aufregendes Spiel mit der Vollkommenheit. Dafür, dass wir es als Künstler wagen, Vollkommenheit nahe zu kommen, beispielsweise mit dem Mut der eigenen Stimme, werden wir verehrt. Dies jedoch nur, weil wir den Abgrund, das Zerbrechliche, das Endliche und die Möglichkeit des Scheiterns stets in uns tragen.

Vergangene Woche starb die Jahrhundert-Sopranistin Hilde Zadek im Alter von 101 Jahren. „Singen ist eine so unbeschreibliche Befreiung!“, sagte sie einmal. „Eine Verbindung von Körper, Seele, Gefühlen, Erotik – von allem, was ein Mensch sich an Schönheit wünschen kann.“ Als sie 1947 in einer Aida-Aufführung der Wiener Staatsoper debütiert, muss die jüdischstämmige, von den Nazis geflohene und aus Palästina zurückgekehrte Künstlerin annehmen, dass in ihrem Publikum Menschen sitzen, die für die Ermordung ihrer Verwandten mit verantwortlich sind. Die Partie studiert sie innerhalb von fünf Tagen ein, allein mit einem Klavierbegleiter, in italienisch, einer Sprache, von der sie bis dahin kein Wort beherrscht. Zur Premiere haben sich etliche Schreihälse in den oberen Rängen versammelt, es heißt, sie wollten die jüdische Sängerin mit Zwischenrufen vernichten. Doch es kam anders. Von ihnen ist überliefert, dass sie gesagt haben sollen: „Und dann hat sie gesungen. Da samma in die Knie gange.“

Kein Mensch wird dies je von einer künstlichen Künstlerin sagen.