Reportage Almería - Die Gewächshäuser der geplatzten Hoffnungen

El Ejido · Erst haben sie sich über das Mittelmeer gekämpft. Jetzt verlieren sich die Flüchtlinge im Plastikmeer von Almería in Südspanien. Sie verdienen wenig, andere an ihnen viel.

 Man nennt sie das Plastikmeer: Die Region El Ejido in der südspanischen Provinz Almería ist vom Gemüseanbau in Gewächshäusern dominiert.

Foto: Simon Putsch

Wenn wir über Geflüchtete sprechen, denken wir an die Flüchtlingskrise 2015, an Aufnahmeeinrichtungen, Asylpolitik und Willkommenskultur, aber wahrscheinlich nicht an das südspanische Gemüse-Eldorado, globalisierte Landwirtschaft und Massenanbau. Dabei entstehen in Südspanien seit Jahren Slums, in denen Migranten und Migrantinnen leben, die für Hungerlöhne unser Gemüse anbauen. Wer profitiert von wem und was ist unsere Rolle dabei?

Ich befinde mich in El Ejido in der Provinz Almería. Um mich herum Tonnen von Plastik, Arbeiter und Arbeiterinnen aus afrikanischen Ländern, Abertausende Tomatenpflanzen, Bohnen, Paprika und anderes Gemüse. Heruntergekommene Baracken, herumfliegende Plastikplanen, schwer beladene Lkws, deren Kühlaggregate laut brummen, Ziegen, die die Lebensmittelreste fressen. „El mar del plástico“ – das Meer aus Plastik – wird die Region genannt. Eine schier endlose Ansammlung von Gewächshäusern, die man selbst aus dem All sehen kann, so groß ist ihr Ausmaß. Inmitten des unwirklichen Szenarios liegt die Stadt El Ejido.

Wenn man in Deutschland im Supermarkt in der Gemüseabteilung wühlt, stößt man unweigerlich auf Städtenamen der spanischen Region. El Ejido, Roquetas del Mar, Campohermoso und Níjar sind nur einige der dortigen Ballungszentren, die uns rund um das Jahr mit einer atemberaubenden Fülle an Gemüse versorgen. Die zweispurige Autobahn, die direkt an El Ejido vorbeiführt, leitet täglich Hunderte Lebensmitteltransporter in Richtung Mitteleuropa.

Sechs Tage in der Woche sortiert Mohammed Tomaten

Mohammed weiß das. Er hat immerhin über 8000 Kilometer zurückgelegt, um an dieser allumsorgenden Dauerverfügbarkeit mitzuwirken. Sechs Tage die Woche steht der hagere Malier im Gewächshaus und sortiert die Tomaten nach Größe, Form und Farbe. Gut müssen sie aussehen, wenn sie bei uns in den Einkaufswagen kommen. Alles, was den Anforderungen nicht genügt, landet bei den Ziegen.

Ich treffe Mohammed vor einem Haus, das er sich mit drei anderen Maliern teilt. Er ist nun seit sieben Jahren in Spanien, einen richtigen Pass hat er nicht, nur ein Übergangsdokument. Die Arbeit in El Ejido sollte eigentlich auch nur der Übergang in ein besseres Leben sein. Viele Menschen aus afrikanischen Ländern landen zwischen den Tomaten, sagt Mohammed. Es hat sich herumgesprochen, dass man hier schnell Arbeit bekommt. Aber nur die wenigsten schaffen es wieder aus dem Meer aus Plastik heraus. Der Lohn reicht kaum zum Leben, geschweige denn dafür, sich eine neue Zukunft aufzubauen.

Seit sieben Jahren hat er keine Privatsphäre mehr gehabt, da er sich sein Zimmer mit einem Mitbewohner teilt. Einen Teil seines spärlichen Lohns schickt Mohammed an die Familie in Mali. Er ist ja schließlich die große Hoffnung. Er ist der, der es nach Europa geschafft hat und der es bis nach ganz oben schaffen kann.

Mohammed hängt Wäsche auf. Vor sieben Jahren ist er aus Mali gekommen. Einen richtigen Pass hat er noch immer nicht.

Foto: Simon Putsch

Der Raum, in dem wir sitzen, ist vollgestopft mit dicken Schlafdecken. Wir befinden uns in einer wüstenartigen Gegend Spaniens, in der es tagsüber extrem heiß werden kann, die Temperaturen in der Nacht jedoch stark abfallen. Mohammed bedauert, dass sie keine vernünftige Heizung haben, „aber so muckeln wir uns halt alle nachts unter die Decken“, fügt er grinsend hinzu. „Das Wasser müssen wir abkochen, wenn wir es trinken wollen.“ Das Grundwasser sei hier von extrem schlechter Qualität, möglicherweise sogar mit Pestiziden belastet, aber da ist sich Mohammed nicht sicher.

Wer hier nicht arbeitet, fährt hier nicht durch

Etwas verloren fahre ich weiter durch die endlose Wüste an Gewächshäusern. Straßenschilder sieht man kaum. Es gibt ja auch keine Gründe, das Gebiet zu durchfahren, außer man arbeitet hier. Ich fahre an einem Haus vorbei, vor dem fünf Personen sitzen. Sie scheinen nicht miteinander zu reden. Als ich aussteige und auf sie zugehe, richten sich einige Köpfe nach oben. Etwas misstrauisch werde ich beäugt. Nach ein paar oberflächlichen Fragen und Antworten kommen wir wirklich ins Gespräch. Mois fängt unvermittelt an zu erzählen.

„Ich habe in Tunesien Spanisch und internationalen Handel studiert. Ich habe alle Abschlüsse, komme aus einer sehr armen Region an der Grenze zu Algerien. Viele Menschen dort haben studiert und sind gebildet, aber es gibt kaum Arbeit, sodass sie sich gezwungen sehen, das Land zu verlassen. Die meisten versuchen über den Meeresweg nach Italien zu kommen, aber viele sterben auf der Überfahrt. Jede Familie da unten hat ein Familienmitglied, das den harten Weg auf sich genommen hat. Du musst verstehen, für uns ist Europa ein Paradies. Hier gibt es die Menschenrechte, Freiheit, hier gibt es einfach alles, aber um hier anzukommen, musst du viel opfern. Du musst Tag und Nacht arbeiten, du musst schuften, um es zu schaffen. Der Weg ist sehr hart.“

„Was hast du denn auf deinem Weg erlebt?“

„Da fällt mir nur ein Wort ein und das ist ganz viel Leid. Alle hier haben gelitten und leiden immer noch. Die Menschen, die hierherkommen, sind alle in einem Alter, in dem man eine Familie gründet, sein Leben entwirft. Warum sind wir hier? Warum das Ganze? Stell dir vor, deine Mutter oder dein Vater wird krank und du hast kein Geld, ein Medikament zu kaufen. Jeder hat eine Mutter und einen Vater. Hier kommt niemand nur zum Spaß. Die Leute in Tunesien wissen nicht, was hier passiert. Sie sind nicht informiert. Ich wusste es auch nicht. Mich beunruhigt, dass ich nicht weiß, was mit mir passiert, was mich erwartet. Ich habe keine Papiere. Was kommt auf mich zu? Muss ich zurück in die Hölle da unten oder kann ich irgendwie hierbleiben – das sind die Dinge, die mich nicht schlafen lassen.“

„Hast du einen Traum?“

„Ich habe den Traum, in Europa bleiben zu können, am besten in Spanien. Ich habe viel gearbeitet, viel studiert. Habe Spanisch gelernt. Jetzt bin ich immer noch ohne Papiere, ohne Würde. Momentan fühle ich mich sehr verloren.“

„Du bist nun mitten in diesem riesigen Ozean aus Gewächshäusern. Siehst du El Ejido als eine Möglichkeit, den Absprung zu schaffen?“

„Du kennst doch die Regeln hier. Diejenigen, die keine Papiere haben, werden ausgebeutet und unterbezahlt, wenn sie überhaupt Arbeit finden. Immerhin ist es illegal, Menschen ohne Papiere einzustellen. Das machen nicht viele Arbeitgeber und die wenigen, die es machen, gehen ein hohes Risiko ein. Es gibt hier etliche Menschen, die seit vielen Jahren unter schweren Bedingungen tagein tagaus in den Gewächshäusern schuften, vielfach für Hungerlöhne, und es einfach nicht schaffen, aus dem Teufelskreis herauszukommen.“

Diangos kleinere Brüder starben in seinen Armen

Neben Mois sitzt Diango. Der junge Malier saß während des Gesprächs regungslos auf seinem Stuhl. Als ihn Mois ermutigt, fängt er an zu erzählen. „Wir waren mitten auf dem Meer zwischen Marokko und Spanien. Am zweiten Tag paddelten wir orientierungslos über das Meer. Gegen 18 Uhr kam ein furchtbar starker Wind auf. Die Wellen wurden immer höher und überfluteten das Boot. Einige sind bewusstlos geworden und zwölf von uns sind über Bord gegangen. Ich konnte meine beiden Brüder wieder hereinziehen. Sie hatten aber so viel Salzwasser geschluckt, dass sie daran gestorben sind. Ich hatte meine beiden kleinen Brüder, beide 17 Jahre alt, in den Armen, als sie gestorben sind. Ich bin der Älteste und konnte sie nicht retten.“

Meine nächsten Ziele sind die endlosen Erdbeer- und Himbeerplantagen der Region Huelva. In der Hauptsaison reisen mehr als 80 000 Frauen aus Nordafrika an, um die harte Arbeit auf den Feldern zu verrichten. Männer werden ungern angestellt, heißt es. Angeblich, weil Frauen die Früchte mit mehr Fingerspitzengefühl pflücken können.

Direkt neben dem Betonstreifen einer Schnellstraße, die von Huelva nach Moguer führt, fallen mir mehrere Häuser auf. Der Putz ist heruntergebröckelt, es hängt Wäsche vor den Wänden, Müll und kaputte Möbel liegen verstreut auf dem Vorplatz. Daneben ein Metallbetrieb, Lkws fahren vor und wieder ab, beladen und entladen. Es ist laut und staubig. Ich treffe Asmae vor ihrem Haus.

Sie wohnt dort zur Miete mit vier anderen. „Wir sind so was wie eine Wohngemeinschaft. Alle mit verschiedenen Lebensgeschichten, aber irgendwie sind wir alle hier gelandet.“ Die Zimmer sind karg eingerichtet. Überall liegen große Koffer, so als wäre jemand auf der Durchreise. In dem einen Zimmer schlafen Asmae und eine andere Frau. In dem zweiten ein Mann, der sich flüchtig vorstellt, und eine Marokkanerin mit ihrem Sohn. „Seit elf Jahren lebe ich nun hier und jeden Tag nehme ich mir vor, mein Leben zu ändern. Aber ohne Papiere hast du keine Chance. Schau mal hier! Das ist alles Schimmel an den Wänden. Das ist doch nicht gesund. Ich leide unter starken Rücken- und Schulterschmerzen von den schweren Kisten, gefüllt mit Erdbeeren. Aber ich kann nicht aussetzen, dann verdiene ich ja kein Geld. Und zum Arzt kann ich auch nicht. Wer soll das bezahlen? Doch das ist gar nichts! Hier gibt es schwangere Frauen, die in ihrer Ausweglosigkeit bis in den neunten Monat hart arbeiten. Du glaubst nicht, wie viele Totgeburten es hier gibt.“

Plünderung, Prostitution und Brandstiftung sind die Regel

Ich fahre weiter nach Lepe. Es liegt unweit der portugiesischen Grenze und ist neben Moguer und Palos de la Frontera ein weiterer Ballungsraum für den Massenanbau von Erdbeeren und Himbeeren. Neben dem Friedhof von Lepe hat sich eine Art Slum gebildet. Später werde ich erfahren, dass an diesem Ort Plünderung, Prostitution und Brandstiftung die Regel sind.

Überall liegen Müll, umgekippte Einkaufswagen, Stofffetzen und Reste von Holzpaletten. Die meisten Hütten sind zu. In ein bis zwei Monaten werden sich die Behausungen wieder mit Menschen füllen. Gerade gibt es weniger Arbeit. Viele versuchen, während der Winterzeit woanders Geld zu verdienen, oder gehen zurück in ihre Heimatländer.

Ein Mann mit Socken und Flip-Flops schiebt angestrengt einen schwer beladenen Einkaufswagen über den zerfurchten Weg. Immer wieder droht der Wagen umzukippen, wenn sich die kleinen Räder in den Bodenrillen verfangen. Eine Holzpalette und mehrere plattgedrückte Kartons sind notdürftig auf ihm befestigt. Der Mann heißt Bouna und kommt aus dem Senegal. Vor zehn Jahren ist er aufgebrochen. „Eines Nachts haben wir uns mit 89 Leuten auf einer Piroge auf den Weg gemacht. Mit 89 Leuten, verstehst du?“ Ich kann es mir nicht vorstellen – überfüllte, kaum seetüchtige Boote mitten auf dem Mittelmeer.

Bouna balanciert Baumaterial auf einem Einkaufswagen. Der Senegalese hat seine Heimat vor zehn Jahren verlassen.

Foto: Simon Putsch

Bouna stellt mich zwei Freunden vor. Gee Fall (22) und Kanaza (25). Sie sind vor drei Jahren zusammen aus Gambia geflohen, haben einen weiten, gefährlichen Weg zurückgelegt, um von Libyen auf einem Boot nach Italien zu kommen. Oberflächlich deuten sie an, was sie in Libyen erleben mussten. Zweimal waren sie im Gefängnis, haben Menschen sterben sehen, haben miterlebt, wie Menschen gefoltert wurden.

Plötzlich hören wir ein Autohupen. Zwei junge Männer durchfahren in ihrem klapprigen Seat das Camp. Der Beifahrer hält drei Handys in der Hand und telefoniert. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter und fragt, wer am nächsten Tag arbeiten kann. „Ihr müsst um 7 Uhr oben an der Straße sein, dann holt euch ein Transporter ab“, sagt er. „Das sind die Vermittler für die Großkonzerne und Großgrundbesitzer“, erklärt Bouna. „Die fahren durch die Camps und werben die Leute. Dann werden wir morgens früh abgeholt. Meistens wissen wir nicht, wohin es geht. Es gibt ja schließlich unzählige Plantagen. Oft müssen wir um die zwei Euro für die Fahrt bezahlen.“

Diese Menschen werden nicht nur unterbezahlt, sondern zahlen sogar noch dafür, dass sie zu ihren unterbezahlten Jobs fahren können. Mir fällt Asmae ein, wie sie mir erzählte, dass sie keine Wohnung findet und die einzige Möglichkeit darin besteht, die heruntergekommenen Wohnungen der Großgrundbesitzer zu mieten. Einige wenige scheinen an der ausweglosen Lage der afrikanischen Migranten doppelt und dreifach zu verdienen.

Als ich abends in einem Dorf­restaurant sitze, kommen mir meine Erlebnisse unwirklich vor. Wer trägt die Schuld? Sind es die Konsumenten, die das Gemüse kaufen? Sind es die großen Unternehmen, die es anbauen? Ist es unsere Asylpolitik? Wenn wir das Gemüse nicht mehr konsumieren, haben die Menschen dort dann keine Arbeit mehr? Man könnte womöglich alle Fragen mit „Ja, aber . . .“ beantworten. Je weiter Ursache und Folge auseinanderliegen und je undurchsichtiger Zusammenhänge sind, desto weniger entwickelt sich ein Gefühl der Verantwortung, gar der Schuld.