Pandemie RKI warnt vor Corona-Wendepunkt: Mehr junge Menschen könnten erkranken

Ansteckendere Varianten des Coronavirus machen das Eindämmen der Pandemie schwerer als befürchtet - auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene könnten nach RKI nun mehr erkranken.

Jens Spahn (2.vr-l, CDU), Bundesminister für Gesundheit, Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Klaus Holetschek (CSU), Vorsitzender Länder-Gesundheitsministerkonferenz und bayerischer Staatsminister für Gesundheit und Pflege, geben eine Pressekonferenz zur Corona-Lage im Lockdown.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Nach monatelangem Corona-Lockdown geraten Hoffnungen auf schnelle weitergehende Öffnungen zusehends in Gefahr. Das Robert Koch-Institut (RKI) warnte am Freitag, dass der seit einigen Wochen erreichte Rückgang der Neuinfektionen auch angesichts ansteckenderer Virus-Varianten wohl ins Stocken komme. „Wir stehen möglicherweise erneut an einem Wendepunkt“, sagte Präsident Lothar Wieler in Berlin. Ursache dafür seien vermutlich ansteckendere Varianten des Virus. „Es werden auch mehr junge Erwachsene, Jugendliche und auch Kinder erkranken“, prognostizierte Wieler. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mahnte erneut zu Vorsicht bei weiteren Lockerungsschritten, bei denen es keinen Automatismus geben könne. Die Impfungen sollen nach Kritik am schleppenden Start weiter Fahrt aufnehmen - auch mit einem neuen Regierungsbeauftragten.

Spahn sagte: „Das Virus gibt nicht einfach auf.“ Das Bedürfnis nach einem Ende des Lockdowns sei greifbar. Bei Öffnungen gelte es aber, behutsam vorzugehen, um Erreichtes nicht zu gefährden. Wieler sagte, die Fallzahlen stagnierten, in vielen Bundesländern sei ein Plateau entstanden. Doch das sei zu hoch. „Jede unbedachte Lockerung beschleunigt das Virus und wirft uns zurück. Dann stehen wir in ein paar Wochen genau wieder an dem Punkt, wo wir Weihnachten waren.“ Das Virus habe einen Schub („Boost“) erhalten, Schutzmaßnahmen wirkten aber auch gegen neue Varianten. Es gebe keinen Grund zur Entmutigung.

Bundesweit lag die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen nun laut RKI bei 56,8 - und damit geringfügig niedriger als am Vortag (57,1). Schon in den Tagen zuvor hatte es keinen deutlichen Rückgang dieser Sieben-Tage-Inzidenz mehr gegeben. Der Höchststand war kurz vor Weihnachten mit knapp 200. Bund und Länder streben 50 an, weitergehende Öffnungen sollen dann bei stabil weniger als 35 möglich sein. Es gibt beim Niveau aber nach wie vor regionale Unterschiede - von 41 in Baden-Württemberg bis 117 in Thüringen.

Wieler hält niedrige Inzidenzen regional für machbar. „Man kann diese Zahl von 35 erreichen.“ Dafür gebe es schon Beispiele in Landkreisen. Auch Spahn verwies auf regionale Konzepte für Lockerungen - oder eben nötige Schutzauflagen. Dabei löse bereits der Beginn von Schulen und Kitas in mehreren Ländern in der kommenden Woche „Mobilität in sehr großem Umfang“ aus - mit Millionen Kindern, dazu Eltern, Lehrkräften und Erzieherinnen. Daher sei zu schauen, wie sich dies nach einer Woche oder zehn Tagen im Infektionsgeschehen niederschlage. So gern man ein Vorgehen nach dem Motto „Schritt eins, eine Woche später Schritt zwei“ hätte, gehe ein solcher Automatismus aber nicht.

Stagnierende Fallzahlen beobachten auch Wissenschaftler im Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. System-Immunologe Sebastian Binder hält es für möglich, dass sich eine bundesweite 50er-Inzidenz im Moment gar nicht erreichen lässt. „Diese Gefahr ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Aktuell sehen wir mindestens ein Plateau in der Entwicklung der Fallzahlen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Ein kausaler Zusammenhang mit der Virus-Variante B 1.1.7. lasse sich dabei noch nicht sicher nachweisen. Er liege aber nahe. „Wir müssen damit rechnen, dass die neue Variante sich möglicherweise bereits wieder exponentiell ausbreitet, ähnlich, wie es die alte Variante im Oktober 2020 tat.“

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach von einer Gratwanderung zwischen Sorgen und Wünschen. Gebraucht werde kein „starrer Stufenplan, aber eine Öffnungsmatrix, die ein breites Instrumentarium bietet, um entsprechend zu reagieren“. Hierzu zähle ausdrücklich die Option, bei Verschlechterungen schnell zu reagieren. „Ostern ist noch völlig offen. Der Osterurlaub entscheidet sich in den nächsten drei Wochen“, sagte Söder nach einer Videokonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und 96 bayerischen Kommunalpolitikern. In Nordrhein-Westfalen sollen an diesem Montag mehrere Lockerungen etwa bei bisherigen Einschränkungen des Freizeitsports kommen.

In die Impfungen komme deutlich mehr Geschwindigkeit hinein, sicherte Spahn zu. Bisher seien fast fünf Millionen Dosen verabreicht worden, bis Ende nächster Woche dürften insgesamt zehn Millionen Dosen an die Bundesländer ausgeliefert worden sein. Daher seien nun Vorbereitungen nötig, die Kapazitäten der regionalen Impfzentren in den Ländern von derzeit bis zu 150 000 Impfungen am Tag in wenigen Wochen mindestens zu verdoppeln. In den Blick kommen soll dann bald auch ein Einbeziehen der normalen Arztpraxen. Spahn stellte aber klar, dass dafür noch kein genaues Datum wie etwa der 1. April zu nennen sei.

Um einen stärkeren Ausbau der Impfstoffproduktion in Deutschland zu unterstützen, setzt die Bundesregierung einen Sonderbeauftragten ein. Die beim Wirtschaftsministerium angesiedelte Koordinierungsaufgabe soll der Chef der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Christoph Krupp, übernehmen, wie Spahn bestätigte. Laut Finanzministerium soll Krupp befristet teils dafür freigestellt werden, eine Arbeitsgruppe zu leiten. Zuerst berichtete das Magazin „Der Spiegel“ darüber.

(dpa)