Demografischer Wandel auch hinter Gittern

Der Bedarf an Haftplätzen für Senioren wächst. Schwer kranke Patienten sind keine Seltenheit. Und viele wissen nicht, was sie draußen noch anfangen sollen.

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Bielefeld. Siegfried L. ist 64 Jahre alt und war schon so oft im Knast, dass er mit dem Zählen aufgehört hat. „Zusammengerechnet komme ich so etwa auf zwölf Jahre Haft.“ Immer wieder ging es um Drogen. Raus, wieder rein. Nun sitzt er — wegen Urkundenfälschung — in einer speziellen Seniorenabteilung in Bielefeld-Senne, in der größten JVA des offenen Vollzugs in Europa. Und nirgendwo bundesweit hat ein Gefängnis mehr Plätze in Abteilungen eigens für Ältere eingerichtet. „Die Gefangenen sind hier ruhiger, viele auch kränker. Die medizinische Versorgung ist wichtig“, erzählt der 64-Jährige, der schon drei Herzinfarkte hatte.

„Die Zahl der alten Menschen im Vollzug ist stetig gewachsen, und der Bedarf an altengerechten Haftplätzen wird weiter steigen“, sagt die Leiterin der JVA Bielefeld-Senne, Kerstin Höltkemeyer-Schwick. Die Seniorenabteilung ist mit 87 Plätzen auf die spezielle Klientel ab 60 Jahre zugeschnitten. Eine keinesfalls homogene Gruppe: „Unter den lebensälteren Häftlingen sind viele Betrugsdelikte vertreten. Zu uns wechseln aber auch schwere Straftäter, um im offenen Vollzug auf die Freiheit vorbereitet zu werden.“ Stellvertreter Rolf Bahle ergänzt: „Manche kommen auf 30, 40 Jahre Haft.“ Andere landeten dagegen erstmals im Renteralter in der JVA Senne, zu der 16 Außenstellen und ein weiteres Hafthaus in Bielefeld gehören.

Der wohl prominenteste 60plus-Häftling war der frühere Topmanager Thomas Middelhoff. In der Seniorenabteilung verbüßte der Ex-Konzernlenker seine Strafe wegen Untreue, bis er als 64-Jähriger Ende 2017 wieder auf freien Fuß kam. Aktuell sind unter bundesweit 52 000 Strafgefangenen zwar nur vier Prozent über 60 Jahre alt. Aber, laut Statistik waren es 2003 erst gut zwei Prozent. Der Bund der Strafvollzugsbediensteten sieht in einigen Bundesländern wachsenden Bedarf für Seniorenvollzug. BSBD-Chef René Müller betont: „In der Regel sind Gefangene im hohen Alter pflege- und betreuungsintensiver.“ Personal- und Kostenaufwand seien groß.

Wie sieht der JVA-Alltag der Betagten in Senne aus? Bei allen Besonderheiten und Lockerungen gilt: „Es bleiben Straftäter und natürlich sind sie ihrer Freiheit beraubt“, wie Höltkemeier-Schwick klarstellt. In zwei Abteilungen sind nur Senioren untergebracht, in einem dritten Flur sind Alt und Jung gemischt. Die Duschen haben besondere Haltegriffe, WC-Sitze sind erhöht, die Betten ebenso.

Arbeit in Gärtnerei, Tischlerei oder Schlosserei ist Pflicht bis 65 Jahre. „Wer älter ist und noch kann und will, wird ebenfalls eingesetzt — was recht gefragt ist“, schildert Detlev Schlingmann, Bereichsleiter der Seniorenabteilung. Um 6 Uhr werden die Hafträume aufgeschlossen, die Verurteilten können sich auf dem Gelände frei bewegen. Manche dürfen auf Antrag ein paar Stunden alleine raus. „Um 21 Uhr ist Nachzählkontrolle, dann Einschluss.“

Siegfried L. sagt: „Die meisten Älteren ziehen sich abends früh zurück, die brauchen Ruhe.“ Er hatte mit gefälschten Diplomen in der Drogentherapie gearbeitet, wurde wegen Betrugs verurteilt. „Hier ist nicht so viel Gebrüll wie in den Abteilungen mit Jüngeren.“ Insasse Uwe, nach einem Steuerdelikt in Haft, ist ausnahmsweise wegen eines Bandscheibenvorfalls schon mit 58 Jahren bei den Senioren. Und froh darüber. Hier könne er aktiv sein in einer Fahrradwerkstatt und sei vor allem medizinisch gut versorgt.

Die Menschen altern in der Haft schneller, beobachtet JVA-Arzt Uwe Tamm. „Wir haben hier multimorbide, schwer kranke Patienten.“ Sie kommen mit Lungen-, Herz- oder Kreislauferkrankungen, Hepatitis C oder Diabetes. Die Betreuung bei altersbedingten Krankheiten werde in der Seniorenabteilung großgeschrieben. Bei Pflegebedarf oder Demenz müssen die Häftlinge aber in andere spezialisierte Häuser außerhalb der JVA Senne wechseln.

Werner R. (81) erzählt: „Ich kann jeden Tag Sport machen und mich so körperlich fit halten.“ Außerdem nutze er den Freiraum, um Bücher aus der JVA-Bibliothek zu lesen. Geistiges Training. Längst nicht allen geht es so, weiß Schlingmann: „Wir haben hier 60-Jährige, die sind total kaputt.“ Kollege Jörg Reinhold sagt: „Manche sind geprägt von langen Knastjahren, eine schwierige Klientel. Auch bei den Älteren gibt es körperliche Auseinandersetzungen.“

Sozialdienst und Seelsorge haben viel zu tun: „Es gibt alle Extreme. Die sozialen Unterschiede sind riesig. Einige sitzen hier in Anstaltskleidung, andere im Designeranzug“, schildert Seelsorgerin Daniela Bröckl. Vielen fehle jede Perspekive für die Zeit danach — ein Job komme altersmäßig nicht mehr in Frage, von der Familie sei womöglich keiner mehr übrig, ein Heimplatz nicht in Sicht. Die JVA-Leiterin sagt: „Einzelne wissen nicht, was sie im hohen Alter draußen noch anfangen sollen. Einer lässt sich nach jeder Entlassung wohl extra beim Diebstahl erwischen, um wieder hier zu landen.“