Der Abend, als Herr Hübner seine Musik wiederfand
Musik: Günter Hübner war ein erfolgreicher Bariton - dann fuhr sein Leben mit ihm zur Hölle. Eine kurze Geschichte vom Verlieren und Wiederfinden.
Wuppertal. Es war ein Messer aus Worten, scharf, kalt und schneidend. "Sie sind ein Nichts", hatte die Frau aus der psychotherapeutischen Einrichtung gesagt; nein, sie hatte ihm den Satz mit Wucht ins Bewusstsein gestoßen. In diesem Moment dachte Günter Hübner, dass seine Würde, seine Musik und alles andere für immer verloren waren.
Aber die Zeit, als sein Leben mit ihm zur Hölle fuhr, liegt eine halbe Ewigkeit zurück. Günter Hübner lächelt, blickt aus dem Fenster auf die kahlen Bäume, die Schneereste auf Wiesen und Hausdächern. Dann geht er in die Küche, wo die Kaffeemaschine faucht.
CDs gibt es in seinem Wohnzimmer, viele CDs, und neben dem Fenster hat Loriots Opernführer einen Ehrenplatz, weil Hübner gerne lacht über die Satiren, die der Alltag spinnt.
Auf dem Ständer neben dem Klavier sind Noten. Hübner unterrichtet wieder, und im März will er Liederzyklen von Franz Schubert singen. "Seelen-Landschaften" soll das Motiv des Abends heißen: Hoffen und Zweifeln, Finden und Verlieren. Jetzt, mit 57Jahren, weiß er, wovon er singt. Er weiß, dass diese Gegensätze Teil seiner eigenen Geschichte sind.
Beginnen wir diese Geschichte in den Nachkriegsjahren. Wenn Günter Hübner aus dem Fenster blickte, sah er Kriegsruinen und Baustellen. Es war eine Kindheit in Düsseldorf, mit einer Mutter, die krank an ihrer Seele war.
Mit 14 fand er seine Gegenwelt aus Samt, Brokat und schönen Stimmen, in die er flüchtete. In der Oper sang die Weltelite der Wagner-Interpreten - Düsseldorf war das Bayreuth am Rhein.
Hübner rührt in seinem Kaffee. Dann geht er zum Bücherregal und kommt mit einer Biographie der Diva Astrid Varnay zurück, klappt das Buch auf und zeigt auf die persönliche Widmung. "Damals kam man noch in die Garderobe der Künstler", sagt er.
Obwohl er die Musik so liebte, wurde Hübner zunächst Lehrer, weil sein Vater das so wollte. Aber weil ihn sein Traum nicht losließ, fing er noch einmal von vorn an. Nach dem Studium des Konzergesangs dann der Durchbruch: Der Bariton sang im berühmten Kölner Solisten-Ensemble Collegium Vokale, reiste auf Tourneen um die Welt, unterrichtete an Universitäten und gab Solo-Konzerte.
1996 begann der Absturz. Hübner verlor zuerst seinen Schlaf. Er durchwachte die Nächte, bis seine letzte Kraft erschöpft war. Die Ärzte diagnostizierten eine schwere Depression. Er hat später versucht, die Stationen seines Niedergangs zu dokumentieren und zeigt auf einen Zettel, der neben ihm auf dem Tisch liegt: sieben Kliniken in viereinhalb Jahren.
Dort ging es vor allem um Psychopharmaka und überhaupt nicht um das, was sein Leben einmal ausgemacht hatte. Er sagt heute: "Entweder man passte in das Konzept oder nicht."Hübner passte nicht. Der gleiche Mann, der einmal auf Welttourneen gesungen hatte, musste bei einer Gruppentherapie Triangel spielen, musste Bilder malen, obwohl er malen schon immer gehasst hat. Er wurde vollgestopft mit Tabletten. Günter Hübner, der Freigeist, wurde vom Leben da draußen isoliert, wurde zerfressen von Demütigungen und dem Schuldgefühl, seine Familie im Stich zu lassen.
Hübner steht auf, blättert in Aktenordnern und kommt mit zwei Fotos zurück. Das erste zeigt ihn 1996 vor einem Felsen: seine Gesichtszüge wirken angespannt, so als halte er stumm einen Schmerz aus. Das nächste Foto zeigt ihn vier Jahre später an seinem Geburtstag: Der Blick ist leer, als liege seine Seele unter Eis.
Hübner wollte mit letzter Kraft raus und bezog ein Appartement in Düsseldorf. Fünfter Stock, 22Quadratmeter, Blick auf Bahngleise. Aber seine Wahnvorstellungen trieben ihn vor sich her, er irrte durch die Stadt, sah sich selbst als Obdachloser.
Jetzt galt er als aussichtsloser Fall, als er erneut in die Klinik kam. Doch dort geschah etwas Unerwartetes: Es gab einen Arzt und einen Psychologen, die sich für sein zurückgelassenes Leben interessierten. "Herr Hübner", sagte der Arzt, "sie sind doch Musiker, sie müssen wieder singen."
Dann fragte der Musiktherapeut der Klinik ihn, ob er bei der Weihnachtsfeier das kleine Lied "Stille Nacht" singen würde. Er zögerte. Aber er sagte zu, und während er am Heiligabend sang und in die Gesichter des Publikums blickte, wusste er, dass etwas geschah mit ihm und seinen Zuhörern. Später umringten sie ihn, schüttelten ihm die Hände.
Günter Hübner blickt schweigend aus dem Fenster, so als wolle er hier einen Punkt setzen. "An diesem Abend hatte ich das Gefühl, etwas wiedergefunden zu haben", sagt er dann. Er erinnert sich an das Jahr danach, als die Leere wich. Er erinnert sich, wie er im Auto das Fenster herunterkurbelte und das erste Mal seit Jahren den Wind auf seiner Haut spürte. Wie er diesen Luftzug genoss, an den er sich kaum noch erinnerte, weil sich die Empfindungslosigkeit wie eine dunkle Decke über seine Sinne gelegt hatte. Wie er zum ersten Mal die Wärme der Sonne spürte, den Duft von Kaffee roch, wie ihn die Musik durchströmte, die ihn auf ewig verlassen zu haben schien.
Muss man einmal alles verloren haben, um den Alltag nicht alltäglich zu finden? Hübner zuckt mit den Achseln, er möchte seine Lebensgeschichte nicht verklären. Er sagt: "Ich habe auch viel verloren." Dann lächelt er in sich hinein, weil er weiß, dass er nach all dem, was geschah, mit sich im Reinen ist. "Aber ich habe etwas gewonnen", sagt er, "ich habe mich selbst gewonnen."