Der Lottogewinner und die hedonistische Tretmühle
Köln (dpa) - Ist er auf die Straße gelaufen und wildfremden Menschen um den Hals gefallen? Oder ist er ganz cool geblieben und hat erstmal eine Flasche Wein aufgemacht?
Was immer der Gewinner des 76,8 Millionen-Euro-Jackpots auch getan hat oder noch tun wird, es wird wohl nicht bekannt werden. Hierzulande dürfen Lottogewinner anonym bleiben. Anders als in den USA, wo man mit seinem Lottoschein oft auch das Recht auf Privacy abgibt - die Lottogesellschaften wollen schließlich mit den Glückspilzen Reklame machen.
Der deutsche Jackpot-Gewinner muss nichts Vergleichbares befürchten. Wobei auch die Gesellschaft Westlotto bisher nur weiß, dass er oder sie aus dem Rhein-Sieg-Gebiet bei Köln kommt. Die Zahlen 9-10-19-20-35 und die beiden Zusatzzahlen 3 und 4 bescherten ihm oder ihr den höchsten Gewinn der deutschen Lottogeschichte - komplett steuerfrei übrigens. Die statistische Wahrscheinlichkeit dafür betrug 1 zu 95 Millionen.
Und jetzt? „Nach der Freude kommt der Schock“, weiß Westlotto-Sprecher Axel Weber aus Erfahrung. Der Schock des Millionen-Gewinns. Für diese Phase gebe es drei goldene Regeln: „Erstens: die Klappe halten.“ Will sagen: Nicht gleich überall rumposaunen, dass man jetzt einen achtstelligen Betrag auf dem Konto hat. „Zweitens: Keine unüberlegten Handlungen.“ Was nützt alles Stillschweigen, wenn man sich einen fetten Ferrari vor die Tür stellt? „Drittens: Von seriösen Banken oder Sparkassen beraten lassen.“ Dann könne man mit den Millionen auch glücklich werden.
Das mit dem Glück ist allerdings so eine Sache. Eine mittlerweile klassische Studie der amerikanischen Psychologen Philip Brickman, Dan Coates und Ronnie Janoff-Bulman ergab im Jahr 1978, dass 22 Lottogewinner nach einem Jahr nicht glücklicher waren als 22 Vergleichspersonen. Diese Erkenntnis ist seitdem vielfach bestätigt worden. Sowohl nach Erfolgserlebnissen wie auch nach Schicksalsschlägen pendelt sich das Glücksgefühl demzufolge nach einiger Zeit wieder auf Normalniveau ein. Die Fachbegriffe dafür sind „hedonistische Anpassung“ oder „hedonistische Tretmühle“.
Die Wissenschaft erklärt den Effekt damit, dass der Mensch von der Evolution her nicht dafür geschaffen ist, dauerhafte Hochs oder Tiefs zu erleben. Wenn man nicht bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfand, übersah man am Ende den Feind, der schon hinter dem nächsten Baum lauerte.
Viele Menschen machen sich wohl auch übertriebene Vorstellungen von einem Leben als Lottogewinner. „Sofort denken die Leute an Urlaube und daran, den blöden Job zu kündigen“, erläuterte der US-Psychologe Daniel Gilbert einmal in einem „Spiegel“-Gespräch. „Andere Details, etwa, dass man als Lottogewinner ständig angebettelt wird, lassen sie nicht in ihre Vorstellung.“
Das sind tröstliche Worte für alle, die am Freitagabend nicht gewonnen haben. Und doch: Vor die Wahl gestellt, würde man das Geld natürlich nehmen. Jeder hat sich wohl schon einmal ausgemalt, was er mit einem Lottogewinn alles anstellen würde. So wie Erwin Lindemann aus dem legendären Loriot-Sketch: „Mit meinem Lottogewinn von 500 000 Mark mache ich erst mal eine Reise nach Island. Dann fahre ich mit meiner Tochter nach Rom und besuche eine Papstaudienz. Und im Herbst eröffne ich dann in Wuppertal eine Herrenboutique.“
Was für bescheidene Wünsche das doch waren, damals, in den 70er Jahren! Aber vielleicht wäre es auch für den neuen Multimillionär aus dem Rhein-Sieg-Gebiet gar nicht so schlecht, wenn er sich an Lottogewinner Lindemann orientieren würde: besser nicht sofort zur Ruhe setzen, besser erstmal keine Villa auf den Seychellen. Man kann auch in Wuppertal glücklich sein.