Die Lust des Physikers am Elfmeter: Mathe für Fußballer

Der Dortmunder Professor Metin Tolan referiert auf dem größten Physikertreffen Europas über die besten Strafstoß-Tricks.

Dortmund. Metin Tolan, Physikprofessor an der Technischen Universität Dortmund, muss schon immer anders gewesen sein als die anderen. Als Norddeutscher schwärmt er nicht für den HSV, sondern hartnäckig für den VfB Stuttgart.

Als James-Bond-Fan hat er überprüft, ob sein Held mit einer magnetischen Uhr Reißverschlüsse an den Kleidern schöner Frauen öffnen kann. Und der Kinofilm „Titanic“ inspirierte ihn zu dem Buch „Mit Physik in den Untergang“.

Da wundert es kaum, dass Tolan in dieser Woche beim größten Europäischen Physikertreffen in Berlin nicht über das Verhalten von Grenzflächen weicher Materie redet — sondern über die beste Taktik beim Elfmeterschießen.

Tolan, Mitte 40, Sohn einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters, studierter Physiker und Mathematiker, hat Sinn für Wortwitz und Humor. Beim Thema Fußball aber wird er ernst und hat so seine Prinzipien.

Wenn etwa Bayern-Torwart Manuel Neuer nach dem Pokalspiel gegen Gladbach sagt, Elfmeterschießen sei Glückssache — dann erwidert Tolan: „Natürlich ist es keine Glückssache.“ Es gebe so etwas wie Nervosität. Aber es gibt eben auch nüchterne Fußball-Mathematik, sein Spezialgebiet.

Kommen wir also zur Tolanschen Elfmeterkunde. Da könnte es ein unterschätztes Problem in Sachen Variabilität geben. In welcher Reihenfolge sollte ein Trainer die Schützen am besten antreten lassen?

Den stärksten zuerst, damit er die Kugel versenkt, die Nerven der eigenen Mannschaft stärkt und den Druck auf den Gegner erhöht? „Falsch“, sagt der Wissenschaftler. Er hat Modelle mit Mathematik gefüttert und ausgerechnet, dass die Wahrscheinlichkeit auf einen Sieg mit dieser Methode nur um fünf Prozent steigt. „Da sollte man den Sekt im Kühlschrank lassen.“

Entscheidend sei der letzte Schütze, betont Tolan. Er müsse der Stärkste sein, auf ihm laste der Druck des ganzen Spiels. Das mathematische Modell liebt diese Variante, es spuckt Sieg um Sieg aus.

Es gibt nur eine Tücke: Mathematik rechnet mit Mittelwerten. Sie kann nicht vorhersehen, dass italienische Fußballgötter wie Roberto Baggio bei Weltmeisterschaften den entscheidenden Elfmeter gegen Brasilien in den blauen Himmel von Los Angeles schießen.

Fußball-Mathematik kann dafür errechnen, warum die Trefferwahrscheinlichkeit beim Elfmeter durchschnittlich bei 75 Prozent liegt. Ein Fußballtor hat eine Fläche von 18 Quadratmetern.

Ein Torwart ist rund zwei Meter groß und hat eine Armspannweite von rund 2,50 Metern, macht zusammen eine Fläche von fünf Quadratmetern. Fünf geteilt durch 18 ergibt 0,27. Damit kann der Torwart also rund 25 Prozent seines Tors abdecken — 75 Prozent nicht. Dass man beim Elfmeter am besten in die Ecken des Tors zielt, ist eine triviale Fußballweisheit.

Mathematisch bedeutet sie, dass ein Ball mit rund 100 Stundenkilometern in 0,4 Sekunden auf das Tor zufliegt. 0,2 Sekunden braucht der Torwart als Reaktionszeit. In weiteren 0,2 Sekunden kann er nicht zum Ball hechten. „So schnell sind die Muskeln nicht, er kann also nur spekulieren“, sagt Tolan.

Eine seiner persönlichen Zusatztheorien klingt so logisch wie eine Weisheit von Mister Spock, könnte Praktiker aber verwundern. „Wenn Elfmeterschützen doppelt so schwere Schuhe trügen, könnte der Ball um zwei bis drei Prozent schneller werden“, sagt Tolan.

Denn die Schussgeschwindigkeit nehme zu, je schwerer ein Fuß sei, der das Leder trifft. „Das kann manchmal echt den Unterschied bei einem Tor machen“, sagt er. Es verstoße auch nicht gegen Fußballregeln. Aber ob ein abgekämpfter Spieler nach 120 Minuten seine Schuhe wechseln und dann im ungewohnten Schuh kräftig zutreten möchte?

Metin Tolans Studenten lieben seine Ausflüge in die Welten jenseits der Elektronenspeicherringe. Er selbst spürt keine Populärphysik-Mission. „Das ist persönlicher Lustgewinn, da bin ich ein Egoist“, sagt er. Nicht ganz. Gewinne aus seinen Büchern fließen in Uni-Stipendien.