NRW Die Talentscouts werden fündig in NRW

Derzeit sind schon knapp 10 000 Schüler Teil des Projekts, das begabte Jugendliche aus Arbeiterfamilien zum Studium ermutigen will. Seit einem Jahr wird landesweit nach ihnen gesucht.

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Düsseldorf. „In Deutschland entscheidet Herkunft über Zukunft.“ Ein Jahr ist es her, dass Suat Yilmaz diesen Satz gesagt hat. Der stellvertretende Leiter des NRW-Zentrums für Talentförderung war damals zu Gast bei der Auftaktveranstaltung für das Projekt Talentscouting an der Universität Düsseldorf. Gut zwei Wochen später stieg auch die Uni Wuppertal ein. Gemeinsames Ziel: leistungsstarken Schülern den Weg an die Hochschule zu ebnen, die sich ein Studium aufgrund ihres familiären Umfelds eigentlich nicht zutrauen würden. Der statistische Beleg: 77 Prozent aller Studenten sind Akademikerkinder, nur 23 Prozent stammen aus Nichtakademikerfamilien.

Düsseldorf und Wuppertal waren dabei nicht die ersten Unis. Bereits 2011 hatten sich neben der federführenden Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen weitere sechs Hochschulen des Ruhrgebiets auf die Idee eingeschworen. Aber erst vor Jahresfrist wurde das vom Land geförderte Talentscouting auf ganz NRW ausgedehnt. Das NRW-Wissenschaftsministerium stellt dafür noch bis 2020 jährlich bis zu 6,4 Millionen Euro zur Verfügung.

Stephanie Klapperich, Talentscout in Düsseldorf

Inzwischen sind 17 Fachhochschulen und Universitäten angeschlossen. Mehr als 300 Gymnasien, Gesamtschulen und Berufskollegs werden von dort mit 65 Talentscouts betreut. Knapp 10 000 Schüler sind mittlerweile Teil des Projekts, Tendenz stark steigend. „Aufgrund der guten Entwicklung gehen wir derzeit davon aus, dass es Mitte 2019 bereits 15 000 Schüler sein werden“, sagt Marcus Kottmann, Leiter des NRW-Zentrums für Talentförderung.

Doris Hildesheim, Leiterin des Studierendenservice der Universität Düsseldorf, freut sich nach dem ersten Jahr darüber, dass mit dem Angebot eine Bedarfslücke erkannt worden sei. „Es ist für uns großartig, ein solches Angebot machen zu dürfen und talentierte Jugendliche so intensiv betreuen zu können.“ Neu sei vor allem der pädagogische Auftrag des Projekts. Es gehe zunächst darum, durch regelmäßige Termine vor Ort eine Beziehung zu den Schülern aufzubauen und Vertrauen zu gewinnen. Denn das ist die Basis für die Ermutigung, die aus der Familie oft nicht kommt. Nicht zuletzt: Das Scouting, so Hildesheim, fungiere „als Türöffner für andere Angebote“: Workshops, das Schülerlabor, Veranstaltungen auf dem Campus — alles, was den Schülern das Uni-Leben näherbringt.

„Wir sind sehr begeistert, wie das angenommen wird“, sagt auch Stephanie Klapperich. Sie ist eine von fünf Düsseldorfer Talentscouts, die jeweils vier bis fünf Schulen betreuen. „Ein- bis zweimal pro Monat sind wir in den Schulen und führen dort sechs bis acht Gespräche à 30 Minuten.“ Mal kommen die Schüler auf Vermittlung von Lehrern, mal aus eigenen Stücken, weil es zuvor eine Infoveranstaltung in Kursen oder sogar vor der ganzen Stufe gegeben hatte.

Klapperich betreut beispielsweise eine Zehntklässlerin, die als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. „Sie kennt sich natürlich mit den Möglichkeiten des deutschen Schul- und Bildungssystems gar nicht aus.“ Aber auch vielen anderen Schülern fehle noch jegliche Vorstellung, „was so ein Studienalltag eigentlich bedeutet“.

Die Begeisterung für das Talentscouting ist aber nicht überall ungeteilt. In seinem Report 02/2018 kritisiert der Westdeutsche Handwerkskammertag (WHKT), Zusammenschluss der sieben Handwerkskammern in NRW: Wenn die Hochschulen flächendeckend eigenes Personal in die weiterführenden Schulen entsendeten, „um Personen für ein Studium zu motivieren, die dies bislang nicht in ihren Entscheidungsalternativen hatten, wird der Trend zum Hochschulstudium weiter verstärkt“.

WHKT-Hauptgeschäftsführer Reiner Nolten fordert daher die Landesregierung auf, „hier umzusteuern und für eine zumindest gleichwertige Unterstützung der Einmündung von Talenten in berufliche Bildungswege zu sorgen“. Schon heute werde prognostiziert, so Noten gegenüber dieser Zeitung, „dass zukünftig Fach- und Führungskräfte aus der beruflichen Bildung und nicht Akademiker fehlen werden“.

Eine Konkurrenz, die Marcus Kottmann vom NRW-Zentrum für Talentförderung in der Form nicht erkennen will. Er wünsche sich, dass es ein gemeinschaftliches Vorgehen gebe. „Grundsätzlich ist es so, dass sich zu wenige junge Leute für zukunftsträchtige Berufe interessieren, weil es dazu in den Schulen keine Angebote und Lehrer gibt.“ Es gebe daher Bereiche, in denen sowohl für die Berufs- als auch für die akademische Ausbildung mehr junge Menschen überzeugt werden müssten. „In vielen anderen Bereichen stehen wir ganz real nicht in Konkurrenz zueinander.“

Kottmann baut auf eine Zusammenarbeit, wie sie an der Hochschule in Gelsenkirchen schon seit 2009 praktiziert wird: Dort sind Handwerkskammer, Industrie- und Handelskammer sowie Unternehmerverbände mit eingebunden, wenn Talenten in der Region berufliche Entwicklungschancen aufgezeigt werden. Und so wie Arbeiterkinder an die Hochschulen herangeführt werden könnten, sei auch eine Kampagne des Handwerks denkbar, die auf Mittel- und Oberschicht abziele: „Da gibt es Jugendliche, die wollen gar nicht studieren, bekommen aber in ihren Familien keine Alternativen aufgezeigt.“

Ohnehin erfolge die Beratung der Talentscouts grundsätzlich ergebnisoffen. „Jugendliche schreckt am meisten ab, wenn sie das Gefühl haben, dass irgendeine Option pauschal ausgeschlossen wird.“ Aber vielen seien zum Beispiel die Möglichkeit eines dualen Studiums oder auch Förderchancen durch Stipendien völlig unbekannt.

Christine Hummel, Leiterin der Zentralen Studienberatung der Bergischen Universität Wuppertal, bestätigt die ergebnisoffene Beratung. „Es geht darum, für jeden Schüler, für jede Schülerin den passenden beruflichen Weg zu finden — und der kann über eine Ausbildung oder ein Studium seinen Anfang nehmen.“ Die Akzeptanz des neuen Angebots sei auch im Einzugsbereich der Uni Wuppertal bereits nach einem Jahr gut: „An zwölf Schulen sind die Talentscouts inzwischen regelmäßig, bei zwei weiteren Schulen in Wuppertal in Hagen wird das Scouting demnächst starten. Es gibt noch weitere Anfragen, deshalb freuen wir uns auf die Rückkehr einer Kollegin aus der Elternzeit im Sommer.“

Und die Nachfrage ist nicht nur in Wuppertal hoch: Mittlerweile gibt es landesweit bereits 40 Schulen, die am liebsten auch noch mitmachen würden, aber wegen der begrenzten Personaldecke bei den Talentscouts nicht mehr können. Auch den Regierungswechsel hat das Projekt unbeschadet überstanden. Offen ist für Marcus Kottmann noch, wie sich das Zusammenspiel mit den von der Landesregierung neu geplanten 30 Talentschulen in sozialen Brennpunkten entwickelt: „Die Idee verdichtet sich ja gerade erst.“