Vorsätze Diktatur der Uhr - das Hadern mit der fehlenden Zeit

Mehr Zeit zu haben — das wünschen sich viele fürs neue Jahr. Ein Vorsatz, dessen Umsetzung jeder selbst in der Hand hat. Dabei helfen Gedanken darüber, was das ist - die Zeit.

Foto: Peter Kurz

Düsseldorf. Gewicht verlieren, gesünder essen, weniger Alkohol — all das gehört zu den gängigen Vorsätzen fürs neue Jahr. Doch nach einer Forsa-Umfrage, alljährlich erstellt im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit, stehen andere Wünsche ganz vorn: „Mehr Zeit für Familie und Freunde“ auf Platz zwei und „Mehr Zeit für sich selbst“ auf Rang 4 — direkt hinter dem Vorsatz, mehr Sport zu treiben. Das Thema Zeit, mit dem auch der meistgenannte Wunsch „Stress vermeiden“ eng zusammenhängt, ist also besonders wichtig. Doch heißt, sich Zeit zu nehmen, nicht auch unerwünschte Zeitverschwendung — in einer Gesellschaft, die doch alles der Diktatur der Uhr unterwirft?

Da hilft nur eine radikal andere Perspektive: sich bewusst zu machen, dass es gar keine Zeitverschwendung gibt. Wir verpassen ohnehin immer etwas. Nein, wir verpassen sogar ganz viel. Na und? Wir müssen halt auswählen.

Wolfdietrich Schnurre

„Das Aussortieren des Unwesentlichen ist der Kern aller Lebensweisheit“, sagte schon der chinesische Philosoph Lao Tse. Jeder muss entscheiden, was für ihn bedeutsam ist. Erst dann kann er sagen, wofür er seine Zeit einsetzen will und wofür eben nicht. Ist das tägliche Klavierspiel oder das Zusammensein mit den Kindern für mich bedeutsam? Oder der Sport? Dann schaffe ich Zeit genau dafür. Weil ich gleichzeitig etwas anderes, für das sonst meine Zeit draufginge, als weniger bedeutsam erkläre. Wer weiß, was für ihn bedeutsam ist, lamentiert nicht über das Keine-Zeit-Haben.

Natürlich gibt es gesetzte Zeiten — die für den Broterwerb investierten Stunden, die ja auch erfüllend sein können. Oder der Einsatz für zu betreuende Kinder oder Eltern. Aber jenseits davon gilt es, Zeitdiebe abzuwehren. Wer im Fernsehen einen Film mit seinen langen Werbeblocks ansieht, wird Opfer von Zeitdieben. Der Sender hat die uns gestohlene Zeit an die werbenden Anbieter verkauft. Immer mehr Menschen berauben sich selbst ihrer Zeit, wenn sie sich in den Maschen der sozialen Netzwerke verheddern. Ach, und überhaupt das Internet und die ständige Erreichbarkeit, durch die wir uns immer wieder gezwungen fühlen, das Wichtige auf Kosten des vermeintlich Dringenden liegen zu lassen.

Und da ist das tägliche Warten. Besonders ärgerlich ist es, wenn man sich in eine Warteschlange eingereiht hat. Ist man endlich dran, klingelt das Telefon: der Mitarbeiter „bedient“ wie selbstverständlich denjenigen zuerst, der sich gerade nicht in die Warteschlange gestellt hat, sondern zu Hause auf dem Sofa sitzt. Und da ist das Warten auf andere: Kommt jemand zu spät zu einer Verabredung, mag es dafür eine Entschuldigung geben. Passiert dies häufiger, so heißt das nichts anderes, als dass er seine eigene Zeit für wertvoller hält als die der anderen.

Aber solche Situationen lassen sich auch zum Positiven wenden. Wartezeit — das heißt auch, plötzlich ungeplant Zeit zu haben. Etwas zu betrachten, das einem sonst entgangen wäre. Über etwas nachzudenken oder mit jemandem zu reden, mit dem man sonst nie ins Gespräch gekommen wäre.

Doch dieses Warten kommt aus der Mode. An der Supermarktkasse oder auf dem Bahnsteig warten — das müssen wir zwar nach wie vor. Aber wir haben immer unser Smartphone dabei, mit dem wir kommunizieren, im Internet lesen, Musik oder Podcasts hören. Nie mehr untätig warten, nie mehr Langeweile. So reizvoll das klingt, es bedeutet auch: keine Zeit mehr, die Umwelt wahrzunehmen mit all ihren kleinen und großen Überraschungen, die sie bereithält. Keine Zeit mehr, seinen Gedanken nachzuhängen. Ideen finden keinen Landeplatz im Kopf, weil der beschäftigt ist mit dem, was vom Handy auf ihn einströmt. Dabei ist doch gerade die lange Weile die Basis für Kreativität.

Wenn wir jünger sind, denken wir, ewig Zeit zu haben. Dabei haben wir nur ein Zeitkonto, das jederzeit auf Null gestellt werden kann. Davon erzählt die Geschichte von der Magischen Bank: Auf einem Konto wird jeden Morgen ein frisches Guthaben von 86 400 Euro bereitgestellt. Der Kontoinhaber kann das Geld nur an diesem einen Tag ausgeben. Er kann es nicht etwa sparen. Das Gute an der Sache: Am nächsten Tag wird das Konto wieder mit neuen 86 400 Euro gefüllt sein. Das Schlechte: Jeden Tag kann der Geldsegen versiegen, und weil man ja nichts zurücklegen konnte, ist von einem Tag auf den anderen kein Geld mehr da. Was würde man tun? Man würde das Geld wohl ausgeben.

Das Konto auf dieser Magischen Bank steht natürlich für unser Zeitkonto im Leben, auf das jeden Morgen 86 400 Sekunden überwiesen werden. Die Stunden, die wir an jedem einzelnen Tag nicht gut gelebt haben, kommen nicht wieder. Und jederzeit kann das Konto aufgelöst werden.

Blaise Pascal

Wir sind selbst für unsere Lebenszeit verantwortlich. Der römische Denker Seneca mahnte schon vor 2000 Jahren: „Die Natur hat uns in den Besitz der Zeit, dieser einen dahinschwindenden Sache gesetzt, aus der uns vertreiben kann, wer immer es will. So groß ist die Torheit der Menschen, dass sie sich sogar die kleinsten und wertlosesten Dinge, die man wieder ersetzen kann, als Schuld aufrechnen lassen, wenn sie sie von jemand erlangt haben. Dass aber niemand glaubt, er sei etwas schuldig, der Zeit bekommen hat, wo doch dies das einzige ist, was er nicht zurückgeben kann, selbst wenn er dankbar ist. Zu spät kommt die Sparsamkeit, wenn man auf dem Grunde angelangt ist. Denn nicht nur das Wenigste, sondern auch das Schlechteste bleibt ganz unten zurück.“

Der Gedanke daran, dass unsere Zeit begrenzt ist, tut weh. Nicht erst am Ende des Lebens, wenn man der verflossenen Zeit nachtrauert. Tage, Monate, Jahre versickern in der Vergangenheit. Einfach weg, für immer. Könnten wir doch nur die Zeit anhalten. Eltern wollen, dass ihre Kinder bleiben, wie sie sind. So klein, so niedlich. Doch das ist unfair, sie haben ihr eigenes Leben, man darf ihre Zeit nicht einfrieren. Sie nicht präparieren wie den Schmetterling, für den die Zeit im Kasten unter der Glasscheibe stehen geblieben ist. Der in prächtigen Farben schimmert — auf ewig. Und doch tot ist. Das Bild dieses einen eingefrorenen Moments können wir uns zwar immer wieder ansehen. Doch seinen Zauber hat dieser Moment verloren. Den hat er nur in der Gegenwart.

Jeder Moment ist einmalig. Gerade wenn wir ihn festhalten wollen, indem wir zum Beispiel mit dem Smartphone einen Film drehen von dem, was wir gerade erleben, laufen wir Gefahr, die Gegenwart zu beschädigen. Wir wollen eine Konserve herstellen, um die Szene später neu zu durchleben. Und versäumen darüber, ganz in dem Moment zu sein.

John Lennon

Wir betrachten das Geschehen aus der Distanz des Beobachters. Nicht wie einer, der mittendrin ist und ihn genießt. Und so wird der Moment gerade dadurch beschädigt, dass wir ihn erhalten wollen.

Die Zeiger der Uhr laufen im immer gleichen Tempo. Jedoch kann das subjektive Zeitempfinden ganz unterschiedlich sein. Wenn ich intensiv an etwas arbeite oder ein Spiel spiele, rast die Zeit. Und wenn ich auf etwas warte, dann zieht sie sich, ist zäh.

Wie wir die Zeitdauer wahrnehmen, hängt davon ab, was um uns herum und mit uns passiert. Geschieht viel, erscheint der Zeitraum kurz. Passiert nichts, so erscheint die Zeit uns quälend lang. Im Rückblick aber kehrt sich der Eindruck um: Erinnern wir uns später an einen Zeitraum, in dem viel passiert ist und in dem das, was wir erlebt haben, von intensiven Gefühlen begleitet wurde, dann haben wir so viele Informationen über diesen Zeitraum gespeichert, dass er uns im Nachhinein als lang erscheint. So ist das beispielsweise bei einer ereignisreichen Reise.

Thomas Mann

Doch auch das Gegenteil gilt: Über einen Zeitraum, in dem wir einfach nur gewartet haben, in dem nichts passiert ist, sind keine Informationen gespeichert. Im Rückblick erscheint er uns als kurz. Das erklärt auch, warum ältere Menschen immer wieder sagen, dass die Zeit für sie rast. Sie haben in ihrem langen Leben so viele Erfahrungen gemacht, dass es, wenn sie älter werden, weniger neue oder spannende Erkenntnisse für sie gibt. Wenig Veränderung heißt, dass alles eher gleich bleibt, dass nichts Bedeutendes mehr passiert. Blickt man dann auf die zurückliegende Zeit, so ist nicht viel an Ereignissen abgespeichert, man hat den Eindruck einer kürzeren Zeitdauer — die Zeit rast.

Aus der Sicht eines jungen Menschen ist es gerade umgekehrt. Dem Kind, für das jeder Tag mit unbekannten Erlebnissen gefüllt ist, erscheinen die Tage länger. Daraus können ältere Menschen eine wichtige Lehre ziehen: Sie sollten sich möglichst viel Abwechslung verschaffen, Neues versuchen - dann rast auch für sie die Zeit nicht so schnell. Jedenfalls gefühlt können sie die Zeit abbremsen. Und interessanter wird das Leben so auch.

All das ist subjektiv. Und betrifft unser Zeitempfinden. Aber was gilt denn eigentlich objektiv? Was ist die Zeit wirklich, gibt es sie überhaupt? Hat sie einen Anfang und ein Ende? Oder läuft sie im Kreis herum, wie es die Uhren zeigen?

Die Wissenschaftler sagen, dass die Zeit mit dem Urknall entstand, vor 13,8 Milliarden Jahren. Aber was war vorher? Eine Frage, auf die manch ein Astrophysiker eine rätselhaft erscheinende Antwort gibt: Da war nichts. Und nichts heißt — auch keine Zeit. Der Tag des Urknalls war ein Tag ohne Gestern. Wie kann das sein?

Nach der Relativitätstheorie von Albert Einstein sind Zeit, Raum und Materie miteinander verwoben: zur Raumzeit. Das heißt, die Zeit hängt mit dem Raum zusammen. Ohne Zeit gibt es keinen Raum, ohne Raum keine Zeit. Ohne eine Bewegung durch den Raum hätten wir gar keinen Maßstab für die Zeit. Wo es keine Materie gibt, die sich durch einen Raum bewegt — und die gab es vor dem Urknall nicht — da gibt es auch keinen Zeitfluss. Auch die Zeit hat also einen Anfang, der Urknall hatte kein Vorher. Entsprechendes gilt in der Zukunft. Wenn einmal das letzte Materieteilchen zerfallen sein wird, dann gibt es auch keine Zeit mehr.

Ein Ende der Zeit also. Das klingt zwar eigenartig. Aber ist das Gegenteil nicht genauso schwer vorstellbar: Zeit ohne Ende, die Ewigkeit also. Wie vertraut erscheint uns dagegen die Gegenwart — da wissen wir, was wir haben. Doch so eindeutig ist auch das nicht. Auch Gegenwart ist relativ. Wenn uns die wohlige Wärme der Sonne im Liegestuhl erreicht, ist dieses Licht schon acht Minuten alt. So lange braucht es von der 150 Millionen Kilometer entfernten Sonne bis zur Erde. Das heißt aber auch: Wir sehen die Sonne nicht so, wie sie jetzt ist, sondern wie sie vor acht Minuten war. Würde sie jetzt erlöschen, so ginge es uns in den nächsten acht Minuten noch gut. Aber dann . . .

Gottfried Keller

Was „jetzt“ bedeutet, ist daher eine Frage des Standpunktes. Was mit „jetzt“ gemeint ist, hängt davon ab, an welcher Stelle des Koordinatensystems von Raum und Zeit man sich befindet. Unsere Geburt zum Beispiel: Aus unserer Sicht liegt sie in der Vergangenheit. Aus der Sicht des Urgroßvaters lag sie in der Zukunft. Albert Einstein hat die Raumzeit einmal mit einer Landkarte verglichen, auf der alle Ereignisse in der Geschichte des Universums dargestellt sind. Vom Zeitpunkt des Urknalls bis zum Ende der Welt.

Eben dies hat eine ungeheuerliche Konsequenz: Bildet die Zeit ein gemeinsames Koordinatensystem mit dem Raum, dann müsste in dieser Raumzeit nicht nur jeder räumliche Winkel des Universums jetzt existieren. Sondern auch jeder Moment der Zeit — die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft — existiert genau jetzt. Dann leben irgendwo in dieser Raumzeit schon unsere Nachfahren, und irgendwo existieren noch immer unsere Vorfahren.

Wenn aber die Zeit nur eine Koordinate der Raumzeit ist und Zukunft und Vergangenheit vergleichbar sind mit rechts und links, dann müsste doch auch eine Bewegung zwischen diesen Koordinaten möglich sein. Ich kann dann nicht nur Berlin verlassen, um nach London zu reisen. Ich kann auch den 31.12. 2017 verlassen, um im nächsten Moment den 22. August 1834 zu betreten. So wie ich mich von links nach rechts bewege, reise ich in der Raumzeit in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Wenn solch ein Hin-und- Her-Reisen möglich wäre, so hieße das auch, dass es die Vergangenheit noch gibt und dass die Zukunft schon jetzt existiert.

Dass alle Zeit der Welt, jeder einzelne Zeitpunkt, wie auf der Filmrolle eines Kinofilms schon vorhanden ist. Und dass das gängige Bild von dem Fluss, der das Fließen der Zeit symbolisiert, falsch ist. Es handelt sich eher um so etwas wie ein vereistes Gewässer, in dem die einzelnen Momente der Zeit eingefroren sind, vom Beginn des Daseins bis zum Ende. Momente, die immer noch oder — die später folgenden — auch jetzt schon vorhanden sind.

Alles ist gleichzeitig da? Wenn die Vergangenheit gar nicht vergangen, sondern irgendwo noch vorhanden ist, und die Zukunft schon irgendwo bereit liegt, dann gibt es am Ende gar keine Zeit. Oje, wo bleibt da unser Uhr-Vertrauen?