Dirigent Christoph Eschenbach wird 75
Er ist ein Ausnahmekünstler: Vom internationalen Pianisten-Star stieg Christoph Eschenbach zum weltweit gefragten Dirigenten auf. Am liebsten würde er auch mit 100 dirigieren. Nun wird er erstmal 75.
Sein Leben beginnt mit einem Trauma: Die Mutter, eine Klavierpädagogin, stirbt bei seiner Geburt in Breslau, wenig später kommt sein Vater, Musikwissenschaftler und Gegner der Nationalsozialisten, in einem Strafbataillon ums Leben. Christoph Eschenbach wächst bei seiner Großmutter auf, doch auch sie stirbt 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee in einem Flüchtlingslager an Typhus. Da war er fünf Jahre alt. „Ich habe einige Monate überhaupt nicht gesprochen, kein Wort. Weil diese Erfahrung dermaßen traumatisch war“, sagt er rückblickend. Die Musik half ihm zurück ins Leben und ist seitdem seine Berufung und Lebenselixier. Am 20. Februar wird der Dirigent 75 Jahre alt. Die Adoption durch Wallydore Eschenbach, eine Cousine seiner Mutter, empfindet der Junge als Rettung. Die Sängerin und Pianistin fragt ihn, ob er Klavier spielen wolle - und nach langem Schweigen soll er sein erstes Wort gesagt haben: „Ja.“ Bei ihr lernt er Klavierspielen, gewinnt schon als Zehnjähriger beim Steinway-Wettbewerb für junge Pianisten den 1. Preis, wird Schüler bei der renommierten Klavierlehrerin Eliza Hansen in Hamburg. Eine beispiellose Karriere folgt: erst als Pianist, dann als Dirigent. Als Krönung seiner künstlerischen Laufbahn erhält Christoph Eschenbach - nach dem Grammy im vergangenen Jahr - im Mai in München den mit 250 000 Euro dotierten Ernst-von-Siemens-Musikpreis, den sogenannten Nobelpreis der Musik. Mit 25 Jahren gewinnt Eschenbach den Clara-Haskil-Wettbewerb in Luzern - Grundstein für seine internationale Solisten-Karriere, die ihn in die ganze Welt führt. Er wird zu einem der gefragtesten Pianisten seiner Generation und spielt unter anderem regelmäßig in Salzburg, wo er mit Herbert von Karajan zusammenarbeitet. Seine Liebe gilt Mozart, Beethoven, Chopin, Bartók und den deutschen Romantikern, aber er begeistert sich auch für zeitgenössische Komponisten wie den 2012 gestorbenen Hans Werner Henze. Mit seinem Studienkollegen Justus Frantz spielt er Klaviermusik zu vier Händen oder zwei Flügeln, legendär ihr gemeinsamer Auftritt mit Alt-Kanzler Helmut Schmidt (SPD). Doch Eschenbach will mehr, ihm fehlen die anderen Instrumente. „Als Pianist bin ich durch die Siege bei einigen Wettbewerben förmlich in eine internationale Karriere katapultiert worden. Doch die Erfüllung ist das Dirigieren“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Dirigenten wie Karajan und George Szell fördern ihn. Seine zweite Karriere als Dirigent startete er 1972 als Ludwigshafener Generalmusikdirektor, ehe er 1982 das Tonhallen-Orchester Zürich übernahm. Über Amerika steigt er in die Spitzenriege der internationalen Pultstars auf: Mit ihm als innovationsfreudigem Chefdirigenten des Houston Symphony Orchestra (1988-1999) blüht die texanische Öl-Stadt zu einer vielbeachteten Musikmetropole auf. Wie schon in Houston, verfolgte er auch in Hamburg als Leiter des NDR-Sinfonieorchesters (1998-2004) eine Politik des entschiedenen Engagements für die Moderne und die Musik der Zeitgenossen, die er in seinen Konzerten programmatisch Werken von Mozart, Beethoven, Schumann oder Schubert gegenüberstellt. Mit seinem kahl rasierten Kopf und dem hochgeschlossenen schwarzen Hemd mit Stehbund wirkt Eschenbach auf manchen fast wie ein Mönch, laute Töne hören die Musiker von ihm selten. „Man muss eine natürliche Autorität haben, um dem Orchester seine Vision zu vermitteln und sie dann auch durchzusetzen“, sagte er einmal. Seit der Saison 2010/11 leitet Eschenbach - nach Philadelphia und Paris - das National Symphony Orchestra in Washington, dem er stets ein ausverkauftes Haus beschert. Als Leiter der Orchesterakademie des Schleswig-Holstein-Musikfestivals kehrt der Dirigent regelmäßig in seine alte Heimat zurück, um Musikstudenten aus aller Welt zu unterrichten. Die Förderung junger Talente liegt ihm sehr am Herzen - die Pianisten Tzimon Barto und Lang Lang, die Geigerin Julia Fischer sowie die Sängerin Renée Fleming gehören zu seinen Protegés. Ans Aufhören denkt der Vielbeschäftigte noch lange nicht: „Ich möchte noch dirigieren, wenn ich 100 bin, weil ich im 99. Lebensjahr vielleicht noch mehr entdecken kann als jetzt.“