„Eintritt in die Hölle“: Bewegendes KZ-Tagebuch

München/Amsterdam (dpa) - „Am Nachmittag des obengenannten Datums wollte ich mich gerade auf den Balkon setzen, um ein wenig zu lesen, als es klingelte.“ Was banal klingt, ist der Moment, in dem der Tod von Klaartje de Zwarte-Walvisch unausweichlich wurde.

„Eintritt in die Hölle“: Bewegendes KZ-Tagebuch
Foto: dpa

Am 22. März 1943 holten die Nationalsozialisten die Näherin, die damals 32 Jahre alt war, und ihren Mann Joseph aus ihrem Haus in Amsterdam und brachten sie zur zentralen Sammelstelle in die Hollandsche Schouwburg. Von dort begann ihre Odyssee über die Konzentrationslager Herzogenbusch (niederländisch: Kamp Vught) und Westerbork in das Vernichtungslager Sobibór, wo sie am 16. Juli 1943 ermordet wurde. „Mein erster Eintritt in die Hölle“ schreibt sie über ihre Ankunft an der Sammelstelle.

Das Tagebuch der jungen Frau hat in den Niederlanden Schlagzeilen gemacht. Erst vor wenigen Jahren hatte eine Nichte in Kanada die Aufzeichnungen - ein Notizbuch und drei Schulhefte - in einer Kiste entdeckt. Weil sie selbst kein Holländisch verstand, schickte sie es an das Jüdische Historische Museum in Amsterdam, in dessen Archiv zwei Dokumentarfilmerinnen es 2008 zufällig fanden. Bis das Buch den Weg nach Deutschland fand, verging allerdings relativ viel Zeit. Erst Mitte Februar 2016 kam es auf den Markt.

„Man sagte: Wenn Anne Frank die Möglichkeit gehabt hätte, aus einem Lager zu schreiben, hätte sie wahrscheinlich ähnlich geschrieben“, berichtet Lektor Ulrich Nolte vom Verlag C.H. Beck. Anne Franks Tagebuch bricht mit ihrer Verhaftung durch die Nationalsozialisten ab, das von de Zwarte-Walvisch beginnt damit. Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter meint allerdings in seinem Nachwort: „Dem Vergleich mit Anne Frank kann sie nicht standhalten“ - rein literarisch. Sie sei eben keine Schriftstellerin gewesen, berichte nüchtern, präzise, fast journalistisch. „Es hat eine schockierende Unmittelbarkeit“, sagt Lektor Nolte.

Klaartje de Zwarte-Walvisch berichtet unverblümt, mit klaren Worten, großer Wut, großem Stolz und überraschendem, wenn auch tiefschwarzem Humor und Ironie von den Qualen, die sie und Tausende andere in den Konzentrationslagern erleben mussten. Sie zitiert aus einem Lied, das sie und ihre Mitgefangenen oft sangen: „Wir sind jetzt in Vught, kein Vergnügen. Man brachte uns hierher in Zügen. Es ist nicht leicht, weil das Essen nicht reicht. Doch 'ne schön schlanke Linie wir kriegen.“ Es ist nur eine von vielen bemerkenswerten Passagen.

Inzwischen haben Historiker rekonstruiert, dass es Klaartje de Zwarte-Walvisch damals gelungen sein muss, ihre Aufzeichnungen an ihren Schwager Salomon de Zwarte zu geben, bevor sie getötet wurde. Er überlebte den Holocaust.

Das Buch umfasst Aufzeichnungen von März bis Juli 1943. „Immer ein Schritt näher an der Deportation, an dem Tod, an der ungewissen Gefahr“, sagt die Historikerin Katja Happe, Expertin für die Geschichte des Holocaust in den Niederlanden. „Babys schmolzen weg wie Schnee“, schreibt de Zwarte-Walvisch zum Beispiel und schildert, wie Männer den Trauermarsch von Chopin spielen mussten, während ihre Frauen stundenlang Steine schleppten und unter der Last zusammenbrachen.

75 Prozent aller niederländischen Juden sind im Holocaust umgekommen, sagt Historikerin Happe. In Belgien seien es 40 Prozent gewesen, in Frankreich 20. „In den Niederlanden hat der Plan der Deutschen zur Vernichtung der Juden ziemlich gut funktioniert.“ Ein Grund dafür sei, dass die Religionszugehörigkeit in Melderegistern erfasst wurde. „Es war relativ schnell rauszufinden, wer jüdischen Glaubens war und wer nicht.“ Von 140 000 Niederländern, die die Deutschen als Juden zählten, wurden nach Angaben Happes 102 000 deportiert. Nur knapp 5000 kamen nach dem Krieg zurück. „Das sind schon heftige Zahlen.“

Klaartje de Zwarte-Walvisch hatte einen großen Wunsch: „Ich hoffe inständig, dass alles was ich hier aufgeschrieben habe, einmal die Außenwelt erreicht“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „Nicht, um Propaganda zu betreiben, sondern nur, damit diejenigen, die von diesem Zuständen nichts wissen (und davon gibt es genug) davon erfahren.“

Ihr letzter Tagebucheintrag ist auf den 4. Juli datiert und mit „Ankunft in Westerbork“ überschrieben. Damals hatte sie noch zwei Wochen zu leben. Im Eintrag schildert sie ihre ersten Eindrücke in dem Lager - der letzten Station vor Sobibór, wo sie sterben sollte. Sie beschreibt, wie sie bei der Ankunft durchsucht wurde und schreckliche Ängste ausstand, ihr Tagebuch könnte entdeckt werden. Sie hatte es in das Futter ihrer großen Tasche eingenäht. „Aber ich hatte Glück“, schreibt sie - und dass ihre Bekannten sich mit ihr über dieses Glück freuten. Ihre letzten Sätze: „Sie wussten, was ich in meiner Tasche versteckt hatte, und warteten voll ängstlicher Anspannung auf mich. Sie freuten sich, dass alles so gut ausgegangen war.“