Schweizer aus Sachsen-Anhalt Fischadler mit Migrationshintergrund
Neuenburg (dpa) - So ganz geheuer dürfte es Fischadler-Küken Taurus aus Sachsen-Anhalt nicht gewesen sein: Die ersten vier Wochen seines Lebens hockte der Kleine im warmen Nest mit Geschwistern und Eltern auf einem Strommast in 30 Metern Höhe.
Und plötzlich fand er sich Ende Juni umringt von Menschen, dazu noch in einer Waagschale wieder. Und dann begann ein Abenteuer, das Taurus zum Schweizer machen soll. Ein Fischadler mit Migrationshintergrund sozusagen, der mit Artgenossen aus Norwegen eine neue Schweizer Dynastie starten soll.
Die Vogelschutzorganisation Nos Oiseaux will den vor mehr als 100 Jahren in der Schweiz ausgerotteten Fischadler wieder dort ansiedeln. Das Problem: die Greifvögel kehren nach der Überwinterung in Afrika meist dorthin zurück, wo sie geboren wurden. Selbst das schönste gemachte Nest oder die saftigsten Rotaugen aus der Karpfen-Familie können Fischadler wie Taurus nicht in fremde Regionen locken. Eigentlich.
Denn die Fischadler-Experten wenden seit ein paar Jahren einen Trick an: Sie nehmen junge noch flugunfähige Küken aus Nestern und siedeln sie anderswo in Volieren an. „Entscheidend ist nämlich, wo sie flügge werden“, sagt Daniel Schmidt, Leiter des Nabu-Vogelschutzzentrums in Mössingen in Baden-Württemberg. Der Trick funktioniert: Seit Ende der 90er Jahre sind so neue Kolonien unter anderem in England, Italien, Portugal und Spanien entstanden. Und nun in der Schweiz.
Jahrzehntelang wurden Greifvögel wie der Fischadler in Europa systematisch verfolgt und einige von ihnen fast ausgerottet. Der Einsatz des später verbotenen Insektenvernichtungsmittels DDT gab vielen der wenigen Überlebenden den Rest. Greifvögel legten dadurch dünnschalige Eier, die kaputt gingen. In Deutschland überlebten Fischadler nur in den ostdeutschen Seengebieten. Dank rigoroser Schutzmaßnahmen seit den 70er Jahren ist die Zahl der Brutpaare in Deutschland von 70 auf 700 Brutpaare gestiegen.
Wendy Strahm hat das Projekt im Kanton Freiburg 2015 mit ihrem Mann Denis Landenbergue gestartet. In diesem Jahr hat die Wissenschaftlerin mit Taurus fünf weitere Küken aus Sachsen-Anhalt und sechs aus Norwegen abgeholt. Nur aus Nestern mit mindestens drei Küken darf eins entfernt werden. „Wir haben inzwischen 1000 Junge im Jahr in Deutschland, da kann man sechs leicht abgeben“, sagt Schmidt.
Für Strahm ist die Betreuung ein Rund-um-die-Uhr-Job. Vier Wochen müssen die jungen noch flugunfähigen Vögel jeden Tag viermal gefüttert werden. Dafür zieht Strahm mit mehreren Freiwilligen sogar ins Gefängnis. „Nur hier finden wir die Abgeschiedenheit, in der die Küken in Ruhe wachsen können“, sagt sie. Das Gefängnis hat jede Menge Land ohne Zutritt für neugierige Wanderer, die die Vögel anderswo stören könnten, und die Insassen haben gleich auch noch die meterhohen hölzernen Volieren gezimmert.
An diesem Sommermorgen fährt Strahm wie jeden Tag mit einer großen Kühlbox zu den Fischern am Neuenburger See. Sie bekommt dort Fische, die in den Netzen hängen geblieben sind und nicht für den Verzehr verkauft werden. „Jedes Küken frisst 300 Gramm Fisch am Tag“, sagt Strahm. Am Gefängnis schnippeln Helfer die Fische klein. Die Portionen werden durch ein Rohr in die weit abgelegenen Volieren geschoben. Die Tiere sollen so wenig Menschenkontakt haben wie möglich. Über Webcams wachen Helfer den ganzen Tag über die Jungvögel.
Wenn ihre Federn ausreichend gewachsen sind und sie erste Flügelschläge machen, kommt der große Tag: Die Volierentür geht auf. „Sie fliegen noch ein paar Wochen in der Umgebung herum und kommen zur Futterzeit zurück“, sagt Strahm. Sie hat den Vögeln drei Gramm leichte Radiosender ins Gefieder geklebt. Die fallen bei der nächsten Mauser ab, aber so können sie wenigstens in den ersten Wochen noch geortet und im Notfall gerettet werden.
Ab Ende August treten einer nach dem anderen die Reise gen Süden an. „Eines Tages kommen sie nicht mehr zum Füttern zurück“, sagt Strahm. Es ist fast wie bei Kindern, bei denen man ja auch vom „flügge werden“ spricht. „Besonders clever sind die Jungvögel am Anfang nicht“, sagt Strahm. Sie müssen erst lernen, wie sie aus dem Flug ins Wasser stoßen und mit den Krallen Fische fangen können. Die Orientierung findet auch nicht jeder gleich. „40 bis 50 Prozent überleben das erste Jahr nicht“, sagt Schmidt. 60 Fischadler will Strahm bis 2020 aus der Schweiz auf die Reise schicken.
„Wenn einige Paare zurückkehren, wäre das ein Riesenerfolg“, sagt sie. Von einem Vogel aus dem ersten oder zweiten Jahr weiß sie zumindest, dass er es bis in den Senegal geschafft hat. Ein britischer Ornithologe machte dort letzten Winter ein Foto eines fliegenden Fischadlers und entdeckte beim Ranzoomen den Schweizer Fußring. Das schottische Küken namens Tschernobyl aus dem Jahrgang 2015 wurde in Algerien angeschossen, operiert, aufgepäppelt und erfolgreich auf die Weiterreise geschickt. Im vergangenen Jahr wuchs Strahm vor allem der schüchterne Arby aus Sachsen-Anhalt ans Herz. Er traute sich nicht gleich raus, als die Volierentür erstmals aufging. Erst mit einem Tag Verspätung schwang auch er sich in die Schweizer Lüfte. Wenn alles gut geht, kehren die ersten Jungvögel im kommenden Jahr zurück.