Flucht aus Kobane: „Man reagiert dann einfach“

Rewan Ercan studiert in Wuppertal Europäistik. Der 29-Jährige hat seinen Verwandten bei der Flucht aus Kobane geholfen.

Foto: J. Michaelis

Wuppertal/Kaarst. Eigentlich wollte Rewan Ercan mit einem Kommilitonen einfach nur Urlaub im „kurdischen Teil der Türkei“ machen. Bis ihn Mitte September auf seiner Reise der Anruf des Vaters erreichte. Seine Verwandten seien in Gefahr. Er müsse sich auf den Weg zu seinem Onkel nach Suruç machen, das an der Grenze zu Syrien nahe Kobane liegt. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits Tausende auf der Flucht vor den IS-Kämpfern, darunter auch Familienangehörige des 29-jährigen Studenten, die ihr Zuhause in Kobane haben.

Ercan bricht seinen Urlaub sofort ab. Gemeinsam mit seinem Onkel fährt er mit dem Auto von Suruç Richtung Kobane, um dort die Verwandten abzuholen. „Das war das reinste Chaos, viele Flüchtlinge waren barfuß unterwegs“, schildert der Student seine Erlebnisse. Es habe ewig gedauert, bis sie die Familienangehörigen gefunden und über Schleichwege in Sicherheit hätten bringen können. „Die Türkei hatte ja die Grenzen dicht gemacht.“ Immer wieder seien er und sein Onkel dann zurück gefahren, um weiteren Flüchtlingen zu helfen, hätten bis zu zwölf Menschen im Wagen untergebracht. „Manche wollten gar nicht gehen, weil sie sich um ihr Vieh sorgten, das sie nicht mitnehmen konnten“, erzählt er. Diese Menschen, die in der Wüste ausharrten, hätten sie mit Wasser versorgt.

Wer Ercan zuhört, merkt, dass er die Erlebnisse eigentlich lieber nicht zu nah an sich herankommen lassen möchte. „Man wird mit der Situation konfrontiert und reagiert dann einfach“, schildert er seine Gefühle. Natürlich sei er geschockt gewesen. „Und verzweifelt, als ich gesehen habe, dass so viele Menschen an der Grenze zur Türkei stehen, aber nicht rüberkommen dürfen.“ Nur wenige Wochen ist das her, Hunderttausende haben das Land seitdem verlassen können.

Ercan ist zurück in Deutschland. Losgelassen haben ihn die Ereignisse nicht. Täglich informiert er sich über die Medien und soziale Netzwerke, wie es um Kobane steht — auch, wenn seine eigenen Verwandten in Sicherheit sind. Denn obwohl er in Deutschland lebt — erst in Düsseldorf, jetzt in Kaarst— , seit er fünf Jahre alt ist, fühlt er sich mit den Kurden in Syrien verbunden.

An der Wuppertaler Universität macht er derzeit seinen Master in Europäistik. „Europa verstehen und seine Zukunft gestalten“, beschreibt die Universität das Profil des Studiengangs auf ihrer Homepage. Aber Ercan möchte auch sich selbst verstehen. „Ich will wissen, wie Europa sich entwickelt und wo ich stehe“, sagt er.

Für ihn stellt der Vormarsch der IS-Truppen auch ein Problem für Europa dar. „Kobane ist kein eigener Planet“, sagt er. Die Kurden fühlten sich mittlerweile sogar in Deutschland von IS-Anhängern bedroht. „Deutschland muss sich auch fragen, warum deutsche Jugendliche im Irak oder Syrien für die IS-Truppen kämpfen. Da ist doch etwas schiefgelaufen.“ Gleichzeitig störe es ihn, wenn Kurden nur als Opfer wahrgenommen werden. „Die Kurden haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen“, sagt er. Wichtig sei jetzt, dass die Türkei dies nicht blockiere und die Weltgemeinschaft humanitäre Hilfe leiste.

Ercans Vorname bedeutet auf kurdisch „der Reisende“. Sobald er Zeit hat, will er wieder zu seinem Onkel nach Suruç fahren, um zu helfen. Denn er bezweifelt, dass seine Verwandten irgendwann in ihre Heimat Kobane zurückkehren können. Seinen Familienangehörigen das zu sagen, wage er aber nicht: „Die meisten wollen das nicht wahrhaben“, sagt er.