Aufarbeitung Geöffnete Akten zeigen NS-Verstrickungen der Welfen
Hannover (dpa) - „Mein Sohn, Dr. Lothar Elbogen, dessen Firma Sie, königliche Hoheit arisieren, befindet sich nun seit einem Jahr in Haft“, schreibt Melanie Elbogen am 4. Juli 1939 an Herzog Ernst August, den Chef des Welfenhauses.
„Ich bitte Sie, flehntlichst, königliche Hoheit, geben Sie mir mein Kind wieder.“
Der Hilferuf der Mutter des rechtmäßigen Eigentümers der Wiener Talkumfabrik blieb ungehört. Der Brief befindet sich im vor einem Jahr geöffneten Familienarchiv des Hauses Hannover. Nach Ausstrahlung einer NDR-Dokumentation über die „dunklen Geschäfte der Welfen“ in der Nazi-Zeit hatte Ernst August von Hannover (33) mehr als 3200 Akten zu Forschungszwecken dem niedersächsischen Landesarchiv überlassen.
„Meines Erachtens muss sich jede Familie - insbesondere diejenigen, die in dieser Zeit Unternehmen geführt haben oder Teil des öffentlichen Lebens waren - ihrer NS-Geschichte stellen“, sagt der in London aufgewachsene Repräsentant des Welfenhauses der dpa. „Auch deshalb war es mir ein persönliches Anliegen, hier eine umfassende und professionelle Aufarbeitung zu ermöglichen. Es geht mir dabei vor allem um Glaubwürdigkeit und Transparenz.“
Seit Ende 2015 untersuchen junge Historiker der Unis Hannover, Göttingen und Bremen die NS-Geschäfte der Welfen und haben dazu auch Akten aus anderen Archiven in Deutschland, Österreich und den USA hinzugezogen. Bislang konnte nachgewiesen werden, dass Ernst August (1887-1953) an neun „Arisierungen“ - also der Entrechtung und gewaltsamen Verdrängung von Juden aus dem Geschäftsleben - beteiligt war. Nur die drei bedeutendsten Fälle waren der Forschungsliteratur zuvor bekannt. Außerdem geht aus dem Welfenarchiv hervor, dass der auf Schloss Blankenburg im Harz residierende Herzog 1939 einen Rüstungsbetrieb im österreichischen Wels gründete, wo im Verlauf des Krieges immer mehr Zwangsarbeiter eingesetzt wurden.
„Mit seinen Geschäften hat sich Ernst August am NS-Unrecht beteiligt“, sagt die Projektleiterin Cornelia Rauh. Dabei gibt es bisher keine konkreten Hinweise auf eine antisemitische Einstellung, eine Parteizugehörigkeit oder gar eine politische Führungsfunktion des Welfenoberhaupts. „Viele Deutsche und Österreicher haben sich am Raubzug zulasten jüdischer Unternehmer beteiligt, ohne dass sie der NSDAP angehörten oder ideologische Überzeugungstäter waren“, erläutert die Professorin für Zeitgeschichte an der Uni Hannover.
Der letzte regierende Herzog der Welfen war nach der Novemberrevolution 1918 ins österreichische Exil gegangen. 1924 erhielt er mehrere Besitztümer vom Land Braunschweig zurückerstattet, die es - samt Personal - zu unterhalten galt. Zu Beginn der NS-Zeit hatte er vor Gericht gegen den Preußischen Staat eine Entschädigungssumme von 5,75 Millionen Reichsmark erstritten.
Anders als die Mehrzahl der Hochadeligen setzte er bei der Anlage dieses Geldes nicht nur auf Land- und Forstwirtschaft, sondern auf Aktienbesitz oder direkte Beteiligungen an Unternehmen der Industrie und Finanzwirtschaft. Pläne für einen Konzern, der in der Nachkriegszeit aufgebaut werden sollte, zeigt eine Skizze aus dem Familienarchiv.
Die vom Schloss Marienburg bei Hannover ins Landesarchiv verlegten Familienakten sollen nach Projektabschluss auch für andere Wissenschaftler zugänglich sein. Sie sind interessante Quellen: „Wir haben kaum vergleichbare Studien zu vermögenden Familien, allenfalls zu Unternehmerfamilien liegt Forschung vor“, sagt Rauh.
Welche Konsequenz zieht der junge Ernst August aus den bisherigen Forschungsergebnissen? „Zunächst einmal hilft es mir und meiner Familie, die in der damaligen Zeit getroffenen Entscheidungen besser verstehen und einordnen zu können“, sagt der 33-Jährige. Sein Vater Ernst August, der Ehemann von Prinzessin Caroline, hatte schon in den 1990er Jahren eine Aufarbeitung angekündigt.
Direkt nach dem Krieg herrschte bei den Welfen wie bei den meisten Deutschen eine Schlussstrich-Mentalität. In der britischen Besatzungszone wurde die Entnazifizierung nicht so rigoros verfolgt, wie - zumindest anfänglich - in der amerikanischen. In seinem Spruchkammerverfahren 1949 in Springe bei Hannover stellte Herzog Ernst August sein Mitwirken an der Enteignung von Juden als normale geschäftliche Transaktion dar. Die Kammer folgte dieser damals gängigen Argumentation und stufte ihn - auch weil er kein Mitglied der NSDAP war - als „entlastet“ ein.
Zwischen 1946 und 1965 gab es vor ordentlichen Gerichten zudem zehn Restitutionsverfahren, in denen über den Entschädigungsanspruch der jüdischen Eigentümer oder ihrer Erben entschieden wurde. An einigen im Zuge der „Arisierungen“ erlangten Unternehmen blieb das Adelshaus sogar noch eine Zeit lang beteiligt. „Es wird noch zu klären sein, wie das funktioniert hat“, sagt die Historikerin.