Gerhard Steidl verlegt Grass und Lagerfeld
Göttingen (dpa) - An der Haustür blättert der Lack ab, vor der Fassade liegen noch Herbstblätter. „STEIDL“ steht schlicht auf der Klingel. Wer an Wintertagen zufällig durch die Düstere Straße in der Göttinger Altstadt geht, würde nie auf den Gedanken kommen, dass hier ein Verlag von Weltruf residiert.
Gründer, Eigentümer, Verleger und Drucker ist Gerhard Steidl, der im weißen Laborkittel in allen Abteilungen seines Hauses gleichzeitig zu wuseln scheint.
„Unser Erfolgsgeheimnis ist, dass wir alles zu 100 Prozent selbst machen unter einem Dach. Jedes Buch, auf dem Steidl drauf steht, wird hier in der Düsteren Straße hergestellt. Die Idee kommt von der Haute Couture“, sagt Steidl, während er im engen Treppenhaus an einer lebensgroßen Neon-Skulptur von Karl Lagerfeld vorbeihuscht.
Der 61-jährige Steidl ist immer in Eile, 300 neue Bücher werden im Jahr von den 45 Mitarbeitern hergestellt. Jedes ist ein handgemachtes Kunstwerk mit feinem Einband und edlem Druck. Das Papier duftet, weil Steidl Lacke auf Ölbasis benutzt. Die Druckmaschine im Erdgeschoss rattert 24 Stunden am Tag. In den Räumen riecht es nach Kopierer, die engen Arbeitsplätze erinnern an eine 70er-Jahre-Uni.
Steidls vollgestopftes Büro beeindruckt mit einem Ordnungssystem aus hunderten Ablagekästen und Schubfächern, zwischen denen sich der Chef meist mit Telefon am Ohr elegant bewegt.
Künstler stehen am Türrahmen seines Büros gelehnt und warten auf Absprachen. Mit Literaturnobelpreisträger Günter Grass und Mode-Ikone Karl Lagerfeld verbinden Steidl, wie er sagt, langjährige Arbeitsfreundschaften. Sein 1996 initiierter Fotobuchverlag hat mittlerweile die meisten Titel weltweit. Sammler können die Bücher in Shops namens Steidlville in zehn Metropolen kaufen, darunter New York, Neu Delhi, Peking, Moskau und Paris.
Keanu Reeves weilte vor gut einem Jahr in Göttingen, um ein Künstlerbuch zu produzieren. Wie alle in Steidls Welt speiste der Hollywood-Star am großen Tisch im Verlag. „Ich habe einen Koch engagiert, damit ich die Künstler nicht nachmittags in den Restaurants und Bars der Stadt aufsammeln muss“, erklärt der Verleger. Zeit ist knapp in Steidlville. Das Haus nebenan hat er zu Appartements ausgebaut, in denen Autoren übernachten.
Ein paar hundert Meter entfernt von seinem Verlag wurde Steidl geboren, sein Vater war Maschinenputzer in der Druckerei der örtlichen Zeitung. Mit 17 machte er Abitur, mit 18 gründete er den Verlag, der zunächst Plakate und Multiples von Klaus Staeck und Joseph Beuys druckte. „Er hat vor allem ein Auge für Qualität von Fotos und kann Bücher machen wie nur wenige“, sagt Staeck - heute Präsident der Akademie der Künste in Berlin - über Steidl. „Joseph Beuys war damals mein Privatprofessor“, erinnert sich Steidl.
Einen Einblick in den Alltag des leidenschaftlichen Büchermachers bietet der preisgekrönte Dokumentarfilm „How to make a book with Steidl“ (2010). Die Autoren begleiten den Verleger auf seinen Reisen zwischen der kanadischen Einöde bei dem legendären Fotografen Robert Frank, Chanel-Modeschauen in Paris und seinem Besuch in Katar bei arabischen Scheichs, die ein Fotobuch machen wollen.
„Die Abwechslung macht mir Spaß“, sagt der gelernte Siebdruck-Meister über seinen Alltag mit Dutzenden Projekten gleichzeitig. Um 4.30 Uhr steht er auf, um kurz nach 5.00 Uhr ist er im Verlag. „Um 7.00 bin ich in der Druckerei, um 8.00 beginnt der Wahnsinn der täglichen Kommunikation, nach 18.00 habe ich wieder Zeit für Entwürfe.“ Er sieht sich selbst als Handwerker, nicht als Künstler. Ein Handwerker, der vor Ideen sprüht.
Im kommenden Herbst zu Günter Grass' 85. Geburtstag soll ein Günter-Grass-Haus neben dem Verlag eröffnet werden. „In der Mitte wird eine Bücherskulptur stehen mit allen Buchausgaben von Grass, die weltweit erschienen sind“, berichtet Kunstsammler Steidl, der unter anderem Grass' bildhauerisches Werk besitzt. Langfristig soll um den Verlag herum ein Künstlerquartier entstehen.
Besonders freut sich der Verleger auf ein Projekt mit Lagerfeld: Gemeinsam wollen sie sich in die Schriften des Philosophen Friedrich Nietzsche vertiefen. 2013 sollen dann eine Nietzsche-Gesamtausgabe und eine Faksimile-Ausgabe erscheinen. „Das ist eine große Herausforderung. Ich habe ja nie studiert, aber bei einer solchen Arbeit lerne ich wie ein Student auf dem Weg zum Examen“, meint Steidl, schaut auf die Uhr, nimmt seine Umhängetasche und verschwindet in der Dunkelheit. Vor ein paar Stunden hat er sich entschieden, dass er an diesem Tag noch spät nach Paris fliegt. Lagerfeld ruft.