Dialektische Erinnerung an Marx

Berlin. Deutschland ist noch zweigeteilt — bei der Erinnerung an Karl Marx. Im Osten gibt es weiterhin 550 meist sehr prominent gelegene Straßen und Plätze, die nach dem Verfasser des kommunistischen Manifestes benannt sind.

Das Marx-Monument in Chemnitz ist mit 7,10 Meter Höhe und etwa 40 Tonnen Gewicht die zweitgrößte Porträtbüste der Welt.

Foto: Jan Woitas

Versuche, ihn nach der Wende aus den Stadtbildern zu streichen, scheiterten zumeist — anders als bei Lenin, dessen Denkmäler man vielfach schleifte. Im Westen ist Karl Marx hingegen kaum präsent. Im Kalten Krieg war er dort verhasst. Nur in Berlin-Neukölln wurde eine wichtige Straße nach ihm benannt. Erst die Studentengeneration von 1968 entdeckte Marx wieder und begann ihn zu verehren. Auch aus Protest gegen das Establishment. In den Wohngemeinschaften wurde sein Konterfei wie eine Ikone aufgehängt. Etliche Buchhandlungen in Universitätsstädten heißen immer noch nach ihm.

An diesem Wochenende vor 200 Jahren wurde der wohl umstrittenste deutsche Philosoph in Trier geboren. Wer sich die globalisierte Wirtschaft heute anschaut, wird kaum umhinkommen, seine Analyseschärfe und theoretische Durchdringung der kapitalistischen Ökonomie zu bewundern. Die weltumspannende Ausbeutung jedes Menschen und aller Natur durch dieses System — das hat Marx im „Kapital“ erklärt und vorausgesehen. Er hat die Mechanismen der Wertschöpfung, der Kapitalbildung und der Ausbeutung beschrieben und die Arbeiterklasse als solche definiert. Das war eine Voraussetzung dafür, dass sich diese Klasse organisierte — in zwei Strängen. Als Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung, die die kapitalistischen Gesellschaften friedlich verändert haben. Und als kommunistische Bewegungen, die Marx‘ Postulat der „Diktatur des Proletariats“ auslegten, wie sie wollten. Die Ergebnisse dieses Weges sind bekannt: Es sind die Massenmorde Stalins und die Killing Fields von Kambodscha. Es sind Mauer, Stacheldraht und Gulags. Es ist Nordkorea. Das war nicht Marx‘ Wille. Aber es geschah und geschieht in seinem Namen.

Es ist keine Frage, dass Marx die Welt bewegt hat, wie kaum ein anderer. Deshalb darf man in Deutschland an ihn erinnern — und muss zugleich immer auch über ihn diskutieren. Es ist deshalb durchaus richtig, dass Trier an diesem Wochenende eine Statue für Marx aufstellt und sie in einer Feier enthüllt. Er ist seiner historischen Bedeutung nach der größte Sohn der Stadt. Falsch ist freilich, dass sich Trier diese Statue von China hat schenken lassen. Die Stadtväter hätten sich gegen dieses Geschenk regelrecht verwahren und die Marx-Figur selbst in Auftrag geben müssen. Denn dass sich ausgerechnet China auf Marx beruft, ist ein schlechter Witz. Das ist alles andere als eine klassenlose Gesellschaft, das ist eine besonders krasse Form des Turbokapitalismus. Es herrscht dort ein Regime, das 1989 rund um den Tiananmen-Platz Oppositionelle niederkartätscht hat und bis heute jede kritische Regung unterdrückt. Weltweit setzen sich gerade Menschenrechtler für die unter Hausarrest stehende Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, Liu Xia, ein.

Man muss hoffen, dass die Festredner in Trier die passenden Worte dazu finden. Die sicherlich zahlreich anwesenden chinesischen Diplomaten und Touristen dürfen so etwas ruhig mal hören. Daheim werden solche Aussagen nämlich strikt zensiert. Aber vielleicht meinen die Verantwortlichen das Ganze ja auch viel raffinierter. Vielleicht soll man beim Anblick der Karl-Marx-Statue wegen des Zusammenhangs mit China nicht nur an die Verheißungen seiner Lehren, sondern immer auch an die negativen Folgen denken. Das wäre dann wahrhaft dialektisch.