Kirchenskandal Sexueller Missbrauch: Kirche verliert Kontrolle

Bamberg/St. Blasien · Eine Studie belegt das massive Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Während der ZdK-Präsident sich über Medien ärgert, denkt der Jesuit Klaus Mertes weiter.

Der Jesuit Klaus Mertes sagt: Der Missbrauch ist noch nicht vorbei: über Osteuropa, Afrika oder Asien sei noch gar nicht geredet worden.

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Zum 150. Jubiläum des „Zentralkomitees der deutschen Katholiken“ (ZdK), das das höchste Laien-Gremium des Katholizismus am Donnerstag in Bamberg feierte, ärgerte sich dessen Präsident schon zur Frühstückzeit: „Ich möchte einen Bericht nicht kommentieren, der selbst den Bischöfen noch nicht vorliegt“, sagte ZdK-Chef Thomas Sternberg am Morgen auf WDR 5 und sprach von einem „Durchstechen“ der Missbrauchsstudie an die Medien.

Am Mittwoch hatten der „Spiegel“ und die „Zeit“ vorab zentrale Befunde der Missbrauchsstudie online veröffentlicht, die die katholische Deutsche Bischofskonferenz erst am 25. September im Rahmen ihrer Vollversammlung präsentieren wollte. Demnach gab es zwischen 1949 und 2014 mindestens 3677 Opfer sexueller Übergriffe im Kinder- und Jugendalter, beschuldigt werden mindestens 1670 Priester, Ordensmänner und Diakone. Mehr als die Hälfte der Opfer war zum Tatzeitpunkt jünger als 14 Jahre.

Die „Zeit“: Kirche, die Täter schützt, nicht allein die Deutung überlassen

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Missbrauchsbeauftragter der Bischofskonferenz, hatte am Mittwoch von einer „verantwortungslosen Vorabbekanntmachung“ gesprochen. In ihrer Druckausgabe erklärte die „Zeit“ am Donnerstag, was sie zu der Veröffentlichung bewogen habe: „Die Kirche nutzte ihre Macht, um die Täter zu schützen, sie kontrollierte die Akten zuungunsten der Opfer. Nun versucht sie, auch die Aufklärung des Missbrauchs zu kontrollieren. Wir möchten ihr die Deutungshoheit nicht allein überlassen.“

Diese Deutung gerät bisweilen zum peinlichen Eiertanz, wie Sternberg auf WDR 5 vorführte. Denn einerseits erklärte der ZdK-Präsident, die ihm (angeblich) unbekannte Studie nicht kommentieren zu wollen – um andererseits zu kommentieren: Wenn die Veröffentlichungen den Eindruck erwecken sollten, die katholische Kirche habe ihre Hausaufgaben in Sachen Aufarbeitung und Prävention nicht gemacht, sei dieser Eindruck falsch.

Das sieht ein unfreiwilliger Fachmann in Sachen sexuellen Missbrauchs durch katholische Amts- und Würdenträger ganz anders: Der Jesuitenpater Klaus Mertes betrachtet das vorzeitige „Durchstechen“ der zentralen Studienbefunde als positiv: „Die Kirche verliert die Kontrolle und damit auch die Deutungshoheit über die Aufarbeitung von Missbrauch“, schrieb Mertes in einem Kommentar-Beitrag des Online-Magazins katholisch.de.

Die Kirche habe als Auftraggeber der Studie ein Glaubwürdigkeitsproblem: „Jede Untersuchung, die von derjenigen Institution in Auftrag gegeben wird, die untersucht werden soll, steht allein schon deswegen unter Verdacht, gesteuert zu sein, vor allem dann, wenn das institutionelle Versagen der Verantwortlichen in der Institution, also die Vertuschung untersucht werden soll.“

Der 64-jährige Jesuit Mertes brachte 2010 als Direktor des privaten katholischen Gymnasiums „Canisius-Kolleg“ in Berlin die Aufdeckung von Missbrauchsfällen überhaupt erst ins Rollen. Während Bischof Ackermann Mertes anfangs noch dankte, wird der Jesuit in einigen Bistümern von Veranstaltungen ausgeladen. Seit 2011 leitet Mertes das Jesuiten-Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Jesuit Mertes: Themen, bei denen es auf Dauer kein Vorbei mehr gibt

Die Studie nenne Themen, so Mertes, bei denen es früher oder später kein Vorbei mehr geben werde: „Das Verständnis geistlicher Macht, Umgang mit autoritär-elitären Gruppenbildungen in der Kirche, Klerikalismus, Homophobie bis in die katholische Sexualmoral hinein, männerbündisch-zölibatäre Zugangsstruktur zum Klerus, fehlende Beteiligungsverfahren bei Bischofsernennung, Abwesenheit einer unabhängigen Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit in der Kirche, und so weiter.

Mertes wies am Freitag auch darauf hin, dass eine neuerliche Diskussion bloß um den Zölibat viel zu kurz greife. Denn selbst wenn die erzwungene Ehelosigkeit katholischer Geistlicher aufgegeben werden sollte, ändere das ja noch nichts an der ausschließlich männerbündischen Kirchenstruktur. Und das Thema Missbrauch sei noch lange nicht vorbei: über Osteuropa, Afrika oder Asien sei noch gar nicht geredet worden.

Die Studie führe zu Fragen, die tiefer reichten als die der Lagerbildungen zwischen „innerkirchlichen Abwehrreflexen“ und Reform: „Die Weltkirche wird aus dieser tiefen Krise grundlegend verändert hervorgehen. Es geht gar nicht anders. Die Alternative ist, dass es so weitergeht wie bisher. Denn auch dies stellt die Studie – nicht überraschend – fest: „Der Missbrauch geht weiter.“

Mertes erinnert auch daran, dass die Studie gegenüber den Betroffenen entscheidende Fragen nicht beantworte: „Von Anfang an haben sie darauf bestanden, dass es bei der Aufklärung nicht nur um die Täter, sondern auch um die ,Verantwortungskette’ geht. Wer hat wann was gewusst? Und wer hat wann wie gehandelt? Aber das ist auch die Frage der großen Mehrheit der Katholiken.“ Sie alle hätten ein Recht auf Aufklärung, „die strukturell so aufgestellt ist, dass sie Vertrauen ermöglicht, aber auch darauf, dass von den Entscheidern in der Kirche Verantwortung übernommen wird – nicht nur durch Bitten um Verzeihung, sondern durch tiefgreifende Entscheidungen.“

Es fehlt das „Ich war Täter“ in den Aussagen der Studie

Das vermisst auch Christiane Florin, frühere Redaktionsleiterin von „Christ & Welt“. Im Deutschlandfunk kommentierte sie, „ich“ wäre das Wort der Stunde: „Ich übernehme die Verantwortung. Ich war Täter. Ich war Vertuscher. Ich habe Akten verschwinden lassen. Ich habe mich für die betroffenen Kinder und Jugendlichen keinen Deut interessiert. So etwas von einem geweihten Mann ausgesprochen - das wäre ein Schock. Vermutlich ein heilsamer.“