Wadim
Berlin (dpa) - Wadim ist 18 Jahre alt, als er von seiner Familie getrennt und nach Lettland abgeschoben wird - in ein Land, das ihm fast völlig fremd ist. Nach fünf Jahren vergeblicher Suche nach einer neuen Heimat nimmt er sich schließlich das Leben.
Doch was für einen Sinn hat eigentlich das Wort Heimat? Und gibt es Gesetze, mit denen man sie jemandem wegnehmen darf? Diesen Fragen geht der Dokumentarfilm „Wadim“ nach, der am Dienstag (13.12.) sehr spät um 0.00 Uhr im NDR ausgestrahlt wird.
Der 90-minütige Film von Carsten Rau und Hauke Wendler erzählt die Geschichte von Wadim und seiner Familie von der Flucht aus Lettland 1992 bis zu seinem Selbstmord im Januar 2010. Respektvoll, einfühlsam und ohne jede Distanz bilden die beiden Regisseure das Leben eines Jungen nach, der nach seiner Abschiebung kein Zuhause mehr findet und zum Getriebenen wird. Kleiner Wermutstropfen: die Ausstrahlungszeit mitten in der Nacht. Die Erfahrung habe gezeigt, dass der späte Abend ein guter Sendeplatz für Dokumentarfilme sei, heißt es dazu beim NDR. „Auch am Dienstagabend finden sie ihr interessiertes Publikum.“
Und das Aufbleiben lohnt sich auf jeden Fall: Carsten Rau und Hauke Wendler erzählen ihren Film mit großer Intensität und viel Gefühl für Stimmungen und Atmosphäre. Durch Privatvideos der Familie, Interviews mit Lehrern von Wadim oder Gesprächen mit dem Rechtsanwalt der Eltern spüren die Regisseure dem Geschehen nach. Die schonungslose Offenheit, mit der beispielsweise Wadims Eltern vor der Kamera sprechen, ist dabei mitunter fast erschreckend.
Das Schicksal der Familie ist ein klassisches Abschiebe-Drama: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fühlen sich Wadims russischstämmige Eltern in Lettland nicht mehr sicher und flüchten nach Deutschland. Dort wird ihr Asylantrag abgelehnt, die Familie wird lediglich geduldet. 13 Jahre lang leben Wadim, seine Eltern und sein jüngerer Bruder mit der ständigen Angst vor der drohenden Ausweisung.
2005 ist es dann soweit: Mitten in der Nacht dringen Polizisten in ihre Wohnung ein, sie müssen ihre Habseligkeiten packen und sollen das Land verlassen. Die Aktion endet dramatisch: Wadims Mutter schneidet ihre Pulsadern auf, der Vater landet in Untersuchungshaft, Wadim wird nach Lettland abgeschoben. Ohne Papiere endet er in einem Rigaer Obdachlosenheim. Von diesem Moment an beginnt für den gerade mal 18-Jährigen eine Odyssee durch halb Europa - auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Am Ende hat Wadim alle Hoffnung aufgegeben: Mit 23 Jahren nimmt er sich das Leben.
Es ist vor allem das Bild der Eltern in ihrem Wohnzimmer, das von dem Film im Gedächtnis bleibt: Wochen nach der Beerdigung sitzen die beiden fassungslos mehrere Meter voneinander getrennt und schweigen. Der Vater sieht zum Fenster hinaus, die Mutter wiegt sich in einem Sessel langsam vor und zurück. „In einem seiner letzten Telefonate hat er zu mir gesagt: Mama, es wäre doch so schön, wenn wir alle vier zusammen in Hamburg leben könnten“, sagt sie schließlich. „Ich habe gesagt: Junge, ich wünsche mir das so sehr. Ich wünsche mir nichts anderes.“
Der Dreh zu dem Film verlangte nicht nur von Wadims Eltern viel Kraft - auch den Regisseuren ging das Schicksal der Familie sehr nahe. „Die Geschichte von Wadim ist alles andere als ein Wunschfilm, den man sich aussucht“, schreiben die beiden auf der Internetseite zum Film. Zwei Wochen nach Wadims Tod habe der Anwalt der Familie sie kontaktiert. „Seitdem lässt uns die Tragödie nicht mehr los. Sie sprengt alles, was wir als Autoren realisiert haben.“
Der Film könne zwar nichts ungeschehen machen. „Umso mehr hoffen wir, dass die Arbeit nicht ohne Wirkung bleibt. Dass möglichst viele Menschen Notiz davon nehmen, wie es Wadim und seiner Familie ergangen ist“, schreiben die beiden. „Gerade weil ihre Geschichte für 87 000 Flüchtlinge steht, die noch heute mit einer Duldung in Deutschland leben“.
Der jüngere Bruder von Wadim mag daran nicht so recht glauben. Er habe den Film zwar unterstützt, wollte aber nicht daran mitwirken, heißt es im Abspann der Dokumentation. „Sie werden mit Ihrem Film keine Gesetze ändern oder die radikale Ausländerpolitik in Hamburg“, wird er dort zitiert. „Sie werden für einen Moment Mitleid auslösen, bis die Menschen wieder an sich selber denken.“