Heilg-Rock-Wallfahrt: Protestanten auf Tuchfühlung
Der Bischof von Trier zeigt den Heiligen Rock und lädt Christen in die Domstadt. Ein Blick auf ein altes Stück Stoff — aus evangelischer Perspektive.
Trier. „Mama, das Ding ist ja nur braun.“ Die ganze Enttäuschung des Neunjährigen liegt in diesem Satz. Seiner Mutter steigt die Schamesröte ins Gesicht, schnell presst sie ihre Hand auf den Mund des Jungen. Hier ist für vieles Platz, aber nicht für ernüchternde Feststellungen.
Mehr als eine Stunde haben wir ausgeharrt und uns in der Schlange schrittweise vorgeschoben, um das uralte Stück Stoff im Trierer Dom zu sehen. In der Reihe vor uns fließen bei seinem Anblick Tränen. Hinter uns legt eine Frau ihre Hand auf die Glasplatte, die den Gegenstand vor unmittelbaren, allzu feuchten Ehrbezeugungen schützt. Nicht wenige Besucher knien nieder, um ihre Lippen in Saumesnähe zu drücken.
Nur ein Mal anfassen, um etwas von dem Segen abzubekommen. Wie die an starken Blutungen leidende Frau, von der das Matthäus-Evangelium der Bibel berichtet: Als es ihr gelingt, das Gewand Jesu zu ergreifen, ist sie geheilt.
„Den Schrein mit dem Heiligen Rock zu berühren ist so, als ob man Jesus selbst berührt.“ Vladimir, russisch-orthodox und aus Moskau hergepilgert, ist überwältigt. Das ist Glaube. Wunderglaube. Oder Aberglaube?
Der Bischof von Trier zeigt den heiligen Rock. Flavia Julia Helena, Mutter des römischen Kaisers Konstantin, soll den Leibrock Jesu von einer Pilgerreise hierher mitgebracht haben. 1512 wurde das Souvenir aus Jerusalem erstmals ausgestellt, Papst Leo X. besiegelte umgehend die Echtheit der Reliquie. Der Zeitgenosse Martin Luther, der Selbstgerechtigkeit seiner Kirche mehr als überdrüssig, wetterte gegen den „Beschiss zu Trier“ und den „großen Jahrmarkt des Teufels“.
Seit 1959 muss nun offiziell auch kein Katholik mehr glauben, dass es sich bei dem Exponat tatsächlich um das Unterkleid handelt, das der Gottessohn bei seinem Gang in den Kreuzestod getragen hat. Muss nicht. Kann aber. Wie hat mir die Ordensfrau im Zugabteil nach Trier gleich noch selig-wissend zugeraunt? „Millionen Pilger durch Hunderte Jahre, die können doch nicht irren.“
Zum 500-jährigen Jubiläum des katholischen Großereignisses streckt Bischof Stephan Ackermann die Hand aus: „Seit den Tagen der Kirchenväter wurde die unzerteilte Tunika Christi als Symbol der Einheit aller Christinnen und Christen gedeutet.“ Er könne die Wallfahrt nicht mehr ausrufen, ohne dazu die Schwestern und Brüder aus den christlichen Konfessionen einzuladen.
Die Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland hat die Einladung angenommen. Oberkirchenrätin und Ökumeneexpertin Barbara Rudolph beeilte sich zu erklären, dass der wortgewaltige Reformator Martin Luther mitunter übers Ziel hinausgeschossen sei. Überdies erstellte sie eine umfangreiche „Orientierungshilfe“ für ihre Gemeinden. Bedenken ausgeräumt?
Wohl kaum für einen Protestanten wie mich, der sich dieser Tage im Schatten des Doms umhört. „Gläubige, die in Verbindung mit der Wallfahrt einen Ablass gewinnen möchten, können dies unter den üblichen Bedingungen tun“, informiert das Bistum. Die wallfahrtenden Schweizer Damen, die sich gemeinsam mit mir im Pilgercafé der Caritas an Gemüsesuppe und Würstchen laben, machen’s konkret: Mit frommem Werk lässt sich die Zeit dereinst im Fegefeuer verkürzen. Von missionarischem Eifer beseelt, holen sie hervor, was sie auf derlei Touren bereits zusammengetragen haben. Ein Bildchen der unverwesten Heiligen Bernadette etwa. Oder eine der wundertätigen kleinen Medaillen der Catherine Labouré. Mein ungläubiges Staunen ist ihnen sicher.
Ist eine Wallfahrt zu einer Reliquie ein geeignetes Zeichen für die Ökumene? Bischof Ackermann hebt die gemeinsame Ausrichtung auf Christus hervor: „Wenn dieses kostbare Vermächtnis, das dem Trierer Dom anvertraut ist, vor den Pilgern ausgebreitet wird, lenkt es den Blick auf den, der es getragen hat.“
Dafür müsse man nicht dorthin reisen. Das tue auch jeder gemeinsam gefeierte Gottesdienst am Heimatort, meint der reformierte Pfarrer Jochen Denker aus Wuppertal. „Die gemeinsame Feier des Abendmahls — sie wäre das lang erwartete Zeichen der Einheit der Kirche. Aber ein solches Zeichen wird von der römisch-katholischen Kirche verweigert.“
„Gott zeigt sich uns in seinem Wort“, verweist Denker auf das Besondere des Protestantismus’. Und sein lutherischer Kollege Winfrid Krause aus Thalfang betont: „Es gibt kein Gebot des Herrn, zu seinem Rock zu pilgern, und keine biblische Verheißung für solche Wallfahrten.“
Allem Befremden in den eigenen Reihen zum Trotz begibt sich Nikolaus Schneider, Ratvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland und Präses der rheinischen Kirche, heute nach Trier. Auch, um im Jahr 2017 eine Gegeneinladung aussprechen zu können, die protestantischer nicht sein könnte: zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation.
„Natürlich muss man da nicht hingehen“, stellt Schneider für die Zweifler klar. Aber die Heilig-Rock-Wallfahrt ermögliche, sich auf Frömmigkeitserfahrungen neuen Typs einzulassen.
Maria-Elisabeth S. aus Herne hat genau das gewagt und ihre Gefühle in ein Gästebuch geschrieben, das in der evangelischen Konstantin-Basilika nahe des Doms ausliegt: „Ich denke, Ökumene braucht, was hier in Trier geschieht. Ökumene braucht Freude und Sehnsucht. Die Heilig-Rock-Wallfahrt macht Freude, Freude an IHM (Christus) und aneinander, und sie macht Sehnsucht — Sehnsucht nach mehr.“