Todesfahrt von Münster Heimatdorf des Amokfahrers rätselt über das Motiv
Brilon (dpa) - In dem kleinen Sauerlandort Madfeld herrscht Ausnahmezustand. Für fremde Augen ist das allerdings kaum sichtbar und erst recht nicht zu spüren.
Nur das Polizeiauto vor dem hellverputzten, zweistöckigen Haus mit den rostbraun gestrichenen Fenstern mitten im Ort ist ein äußeres Zeichen dafür, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist das Dorf, in dem Jens R., der Amokfahrer von Münster, aufgewachsen ist. Ein kleiner Ortsteil der Stadt Brilon, etwa 40 Kilometer von Paderborn entfernt. Hier herrscht eigentlich nur einmal im Jahr Ausnahmezustand: am zweiten Wochenende im Juli, wenn Schützenfest ist.
Die Eltern Franz R. und seine Frau Marianne R. leben seit Jahrzehnten in der Nähe der weiß aufragenden katholischen Ortskirche St. Margaretha - quasi auf dem dörflichen Präsentierteller. „Die Polizei passt auf, dass hier keine Reporter an die Tür kommen“, sagt der Vater von Jens R. am Telefon. Der 79-Jährige, früher Möbeldesigner, scheint gefasst. Doch wie sich der Schock von Münster bei ihm auswirkt, ist schwer zu sagen.
„Unser Leben ist kaputt für immer“, sagt Franz R.. Er will dabei nicht weinerlich erscheinen, denn er weiß: Das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen ist unvorstellbar. Die bitteren Vorwürfe, die ihm sein 48 Jahre alter Sohn in einer detaillierten, schriftlichen Lebensbeichte gemacht hat, setzen ihm hörbar zu. „Ich habe das nicht gelesen“, sagt er nachdrücklich. Aber es steht in jeder Zeitung schwarz auf weiß.
Und doch: Er will sich verteidigen. Mehrfach wiederholt er, selbst die Polizei habe ihm bescheinigt, dass seine Frau und ihn keine Schuld treffe. „Das Motiv war die Krankheit in seinem Kopf“, sagt Franz R.
„Madfeld - alles was ein Dorf braucht“, heißt es selbstbewusst auf der Internetseite der Ortschaft. „In Madfeld lässt es sich gut leben!“ Aber die Amokfahrt von Samstagnachmittag bricht über die kleine Gemeinschaft herein. Schon kurz nach der blutigen Tat sind Kamerateams und Reporter im Dorf unterwegs. Sie wollen wissen: War Jens R. schon in seiner Jugend und später, bevor er zum Studium nach Münster ging, auffällig?
Doch wer will etwas über einen Menschen sagen, der seit Jahrzehnten kaum mehr in der Heimat war? Meist erntet man Schweigen. Oder nur ein fassungsloses „Warum musste er andere mit in den Tod reißen?“ Aber wer sich auskennt, der weiß auch: Freunde und Bekannte von früher sitzen an diesen Abenden nach der Horrornachricht zusammen oder telefonieren miteinander über die jüngsten Nachrichten aus Münster.
Jens R. hatte den Kontakt zu alten Freunden in den letzten Jahren weitgehend abgebrochen, er lebte in Münster. „Mit Madfeld wollte er nichts mehr zu tun haben“, sagt sein Vater. Manchen von den alten Freunden habe er schriftlich Vorwürfe gemacht, heißt es im Dorf. Spätestens da sei ihnen klar gewesen, dass der frühere Madfelder psychische Probleme habe.
In Madfeld werden nun alte Geschichten aufgewärmt. Sie zeichnen das Bild eines hellhäutigen Jungen, der künstlerisches Talent hatte, eher ein Eigenbrötler und schon immer exzentrisch. Jens R. konnte toll zeichnen, er hatte als Teenager beim Tennis Schläge drauf, die kein anderer beherrschte. Doch nach ganz oben reichte es nicht. Bald hängte er den Schläger an den Nagel. Sein Vater erzählt traurig: „Jens ist immer noch Mitglied im Tennisverein. Ich zahle immer noch seinen Mitgliedsbeitrag. Ich wollte ihn schon länger mal abmelden. Das hat sich jetzt erledigt.“
Schon als Jugendlicher passte Jens R. irgendwie nicht zu seinen Eltern. Sie seien sehr auf ihre Außenwirkung bedacht gewesen, heißt es übereinstimmend. Franz R., ein angestellter Industriedesigner, fast immer im Anzug, sein jugendlicher Sohn damals meist schwarz gekleidet, mit Ziegenbart und Zopf. Ein bisschen auch ein Rebell vom Dorf. Dass es im Elternhaus immer wieder Konflikte gab, eine Entfremdung, das wussten Freunde. Aber ist das nicht eher normal?
Mit einem kleinen Kreis von Freunden zog Jens Ende der 80er Jahre als Oberstufenschüler am Wochenende um die Häuser. Einer lässt durchblicken, dass dabei nicht nur Sauerländer Pils konsumiert wurde. Jens' Selbstbewusstsein sei damals unerschütterlich gewesen. „Bei ihm war immer alles top“, erzählt ein anderer guter Bekannter von früher. „Alles, was er machte, musste spektakulär sein.“ Doch hat dieser Befund auch nach so langer Zeit noch Bestand? Die Madfelder wissen es nicht. Und sie rätseln.