Helgoland: Freiland-Zoo ohne Gitter und Graben
Es sind anrührende Szenen: Wenn die Robben auf Helgoland ihre Jungen säugen, kommen die Menschen ihnen ganz nahe — manchmal zu nahe.
Helgoland. Der Wind treibt den Sand in feinen Strahlen über den Strand der Helgoländer Düne. Wenn der Sturm nachlässt sind manchmal Schreie zu hören, fast wie auf einer Säuglingsstation. Hier ist die Babystube der Kegelrobben. Sie haben sich ausgerechnet die unwirtlichen Monate November bis Ende Februar ausgesucht, um ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen.
Felix Timmermann vom Vogel- und Naturschutzverein Jordsand führt jetzt Besuchergruppen über die Insel. Der 21-Jährige zeigt ihnen den Weg durch die Dünen. Denn viele Zugänge zum Strand sind unpassierbar, gesperrt von schlafenden oder säugenden Robben. Massig, manchmal träge blinzelnd, liegen sie mitten im Weg, an den Dünen oder am Rand der Landebahn des kleinen Flugplatzes.
Am Strand entpuppt sich vermeintliches Treibholz aus der Nähe als Robbe, genauer: als viele Robben. Dunkle, mehr als zwei Meter lange Bullen, etwas kleinere und hellere Weibchen und daneben ganz kleine weiße Fellbündel mit großen schwarzen Knopfaugen.
An die drei Wochen werden die kleinen Robben gesäugt, sagt Rolf Blädel, der ein wachsames Auge auf die Tiere hat. Solange liegen sie nahezu unbeweglich am Strand, trinken, schlafen, werden immer dicker. Die Fettschicht schützt sie später im Wasser vor der Kälte. „Die Mutter verliert in dieser Zeit ein Viertel ihres Gewichts“, sagt Blädel, ein 63-jähriger ehemaliger Polizist, der sich seit 25 Jahren ehrenamtlich um die Kegelrobben und Seehunde auf Helgoland kümmert.
Im 16. Jahrhundert verschwanden die Kegelrobben aus der Nordsee. Erst 1967 wurden die ersten ihrer Art wieder in deutschen Gewässern gesichtet, und zwar auf Amrum, 1975 auch auf Helgoland. Auf der Helgoländer Düne kam das erste Baby 1996 zur Welt. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 200, Tendenz steigend. In dieser Saison wurde am 6. Januar nach Angaben des Vereins Jordsand das 244. neugeborene Robbenbaby gezählt.
Die Wurfzeit ist auch die Zeit der Robbentouristen und Tierfotografen. Ausgerüstet mit langen Teleobjektiven suchen sie ihre Motive. Am Zugang zum Strand fordert ein Schild auf, 30 Meter Abstand zu den Tieren zu halten. „Nicht alle Besucher halten sich daran“, sagt Felix Timmermann und zeigt auf einen Fotografen. Als er ihn anspricht, entspinnt sich schnell ein heftiger Wortwechsel.
„Die meisten Besucher sind vernünftig“, betont Blädel. Den Gesetzen zufolge dürfen die Tiere nicht beunruhigt oder gestört werden. „Was das genau heißt, ist aber unklar“, sagt Blädel. „Die 30 Meter stehen nirgendwo. Da muss es wohl erst ein Grundsatzurteil geben, damit Klarheit herrscht.“
Der Abstand ist nicht übertrieben, findet Timmermann. Er zeigt auf ein Junges, das scheinbar verlassen am Strand liegt. Die Mutter wartet in der Brandung, bis die Menschen sich entfernen. Dann kommt sie zu ihrem Jungen. Doch kaum naht der nächste Mensch, ist sie schon wieder auf der Flucht. „Wenn das den ganzen Tag so geht, bekommt das Kleine zu wenig Milch“, sorgt sich der 21-Jährige. Dann müsste das Junge in die Aufzuchtstation nach Friedrichskoog aufs Festland gebracht werden.
„Wer die Tiere stört, muss mit Strafen von bis zu 10 000 Euro rechnen“, sagt Blädel. „Es geht aber auch um den Schutz der Menschen. Ich warne alle, zu nah an ein Weibchen mit Nachwuchs zu gehen“, so der Experte. „Die sind schneller, als man denkt und haben 32 ausgezeichnete Argumente.“ Gemeint sind die kräftigen Zähne.
Als die ersten Robben auf Helgoland auftauchten, war Blädel fasziniert. Und die Robben haben sich offenbar auch an ihn gewöhnt. „Einmal hat sich ein Weibchen direkt vor meine Füße gelegt. Sie hatte ein Plastikband um den Hals, das sich schon tief ins Fleisch eingeschnitten hatte.“ Blädel hat das Band mit einem Messer durchtrennt. „Dabei hat sie ganz still gehalten, nicht gezuckt. Dann ist sie wieder ins Wasser gerobbt.“